Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
daher Altern mit Muskelschwund, schwachen Knochen, Ausfall geistiger Funktionen, Vorliebe für Frank Sinatra und ähnlichen Degenerationserscheinungen. Aber dieses Ausbleiben von Selbstheilungsprozessen ist ganz überwiegend eine Folge von Fehlanpassung – entweder gibt es zu wenig Stressoren oder die Erholungszeit zwischen den einzelnen Belastungen ist zu kurz –, und Fehlanpassung ist für mich eine Unausgeglichenheit zwischen der eigenen Verfassung und der Art von Zufälligkeit, die durch die Umgebung vorgegeben wird (was ich eher technisch als »Verteilungs- oder statistische Eigenschaften« bezeichne). Was wir im Prozess des »Alterns« beobachten, ist eine Kombination aus Fehlanpassung und Seneszenz, und allem Anschein nach kann man beides voneinander trennen – Seneszenz ist wohl nicht vermeidbar und sollte auch gar nicht vermieden werden (das würde, wie das nächste Kapitel zeigen wird, der Logik des Lebens widersprechen); Fehlanpassung hingegen ist durchaus vermeidbar. Viele Symptome des Alterns gehen darauf zurück, dass – eine typische Zivilisationskrankheit – der Wert der Bequemlichkeit falsch eingeschätzt wird: Man macht das Leben länger und länger, und die Menschen werden kränker und kränker. In einer natürlichen Umgebung sterben die Menschen, ohne zu altern, beziehungsweise nach einer nur sehr kurzen Phase des Alterns. Beispielsweise ändern sich im Leben eines Jägers und Sammlers Werte wie der Blutdruck bis zu seinem Tod nicht, während sie bei den Menschen der Moderne mit der Zeit immer schlechter werden.
Und dieses künstliche Altern ist darauf zurückzuführen, dass die Antifragilität in uns erstickt wird.
Komplexität
Die Unterscheidung organisch – mechanisch ist zwar gut geeignet, um ein Gefühl für den Unterschied zwischen zwei Klassen von Phänomenen zu bekommen, aber es geht noch weiter. Viele Bereiche wie etwa die Gesellschaft, Wirtschaftsaktivitäten und Märkte sowie kulturelle Gewohnheiten sind eindeutig von Menschen gemachte Gebilde, die dennoch nach eigenen Gesetzen – einer Art Selbstorganisation – wachsen. Sie sind nicht im engeren Sinn biologisch, ähneln dem Biologischen allerdings insofern, als sie sich vermehren und replizieren können – man denke an Gerüchte, Ideen, Technologien und Unternehmen. Sie haben mehr Ähnlichkeit mit der Katze als mit der Waschmaschine, werden allerdings häufig irrtümlich für eine Waschmaschine gehalten. Entsprechend lässt sich die Unterscheidung zwischen dem Biologischen und dem Nicht-Biologischen generalisieren: Effektiver ist die Unterscheidung zwischen nicht-komplexen und komplexen Systemen.
Künstliche, vom Menschen gemachte mechanische und elektrische Geräte mit einfachen Reaktionen sind vielleicht kompliziert, aber nicht komplex, denn es treten bei ihnen keine Wechselwirkungen auf. Man drückt einen Knopf, sagen wir einen Lichtschalter, und bekommt eine präzise Reaktion; die Folgen sind, sogar in Russland, völlig eindeutig und absehbar. In komplexen Systemen hat man es dagegen mit starken Wechselwirkungen zu tun. Man denke nur an die Ökologie: Wird eine bestimmte Tierart aus einer Nahrungskette beseitigt, dann werden die Tiere, die diese Art jagen, verhungern, und die Tiere, von denen die beseitigte Art sich ernährte, vermehren sich unkontrolliert, was Komplikationen und Nebenwirkungen zur Folge hat. Die Kanaaniter, Phönizier, Römer und spätere Bewohner des Libanon-Gebirges rotteten die dort lebenden Löwen aus, was zu einer starken Vermehrung der Ziegen führte, die sich unter anderem von Baumwurzeln ernähren, sodass die Gebirgsregion nach und nach vollständig entwaldet wurde – Konsequenzen, die im Voraus nicht absehbar waren. Ähnlich verhält es sich, wenn eine Bank in New York schließt: Die Wirkung breitet sich wellenartig bis nach Island und in die Mongolei aus. In der komplexen Welt ist der Begriff »Grund« selbst in sich fragwürdig; entweder ist ein Grund fast unmöglich auszumachen, oder er ist nicht eindeutig zu definieren – ein weiteres Argument dafür, Zeitungen mit ihrem permanenten Nachschub an Begründungen zu ignorieren.
Stressoren sind Information
Das entscheidende Merkmal von komplexen Systemen mit interagierenden Teilen ist, dass Informationen an die einzelnen Teile durch Stressoren oder dank dieser Stressoren übermittelt werden. Ihr Körper bezieht seine Information über seine Umwelt nicht durch Ihr logisches Denkvermögen, Ihre Intelligenz, Ihre Urteilsfähigkeit oder Ihre
Weitere Kostenlose Bücher