Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
bei der Grammatik angefangen und dann systematisch Wörter in die erlernten Regeln eingepasst hätte, um zweimal pro Quartal geprüft zu werden. Eine Sprache lernt man am besten über die Schwierigkeiten, die in einer konkreten Situation aufkommen, wenn man unter mehr oder weniger stressbeladenen Umständen, indem man sich von einem Irrtum zum nächsten hangelt, etwas kommunizieren muss, vor allem, wenn es sich dabei um ein dringendes Bedürfnis handelt (beispielsweise eines physischer Natur, wie es im Anschluss an ein Dinner in tropischer Umgebung entstehen kann). Man lernt neue Wörter ohne eintönigen Lernaufwand durch eine andere Art von Leistung: das Bedürfnis, zu kommunizieren. Man ist gezwungen, herauszufinden, was das Gegenüber im Sinn hat – und sich radikal von der Furcht zu verabschieden, Fehler zu machen. Erfolg, Reichtum und Technik machen diese Art des Spracherwerbs leider ungleich viel schwerer. Vor wenigen Jahren, als sich noch niemand für mich interessierte, wiesen mir die Organisatoren von Konferenzen im Ausland noch keine katzbuckelnden »Travel Assistants« zu, die fließend Facebook-Englisch sprachen, ich musste also sehen, wie ich mich alleine durchschlug. Die Wortschatzerweiterung erfolgte durch Fingerzeige, durch Versuch und Irrtum (so wie Kinder es auch machen) – keine Palms, keine Wörterbücher, nichts. Jetzt bin ich gestraft durch Privilegien und Komfort – und ich kann Komfort nicht widerstehen. Die Bestrafung stellt sich in Form einer fließend Englisch sprechenden Person ein, die mich am Flughafen begrüßt, indem sie ein Schild mit meinem (falsch geschriebenen) Namen in die Luft hält – kein Stress, keine Unklarheiten, keine Konfrontation mehr mit dem wahren Russisch, Türkisch, Kroatisch oder Polnisch jenseits der hässlichen (gut strukturierten) Lehrbücher. Was noch schlimmer ist: Dolmetscher pflegen hyperbeflissen zu sein, und wenn man unter Jetlag leidet, gibt es nichts Schlimmeres als überbordende Geschwätzigkeit.
Die beste Methode, eine Sprache zu lernen, besteht wahrscheinlich darin, eine gewisse Zeit in einem ausländischen Gefängnis zu verbringen. Mein Freund Chad Garcia verbesserte seine Russischkenntnisse im Zusammenhang mit einem unfreiwilligen Aufenthalt in der Quarantänestation eines Moskauer Krankenhauses; angeblich litt er an irgendeiner Krankheit. Es handelte sich in Wahrheit um eine raffinierte Variante medizinischen Kidnappings. In dem nach dem Ende der Sowjetunion ausbrechenden Chaos konnten Krankenhäuser Reisende durch einen Zwangsaufenthalt dazu bringen, große Geldsummen für die Rückgabe ihrer Papiere zu zahlen. Chad, der die Sprache nur notdürftig beherrschte, musste Tolstoi im Original lesen, was den Umfang seines Vokabulars beträchtlich erweiterte.
Touristifizierung
Mein Freund Chad profitierte von einer Art von Unordnung, die aufgrund der immer weiter um sich greifenden Krankheit namens Touristifizierung stark im Schwinden begriffen ist. Mit Touristifizierung bezeichne ich den Umstand, dass im modernen Leben Menschen wie Waschmaschinen behandelt werden – man kann nach einem detaillierten Handbuch vorgehen und darf mit schlichten mechanischen Reaktionen rechnen. Ungewissheit und Zufälligkeit werden systematisch entfernt, und man versucht, die Realität bis ins kleinste Detail vorhersehbar zu machen. All das im Namen von Komfort, Bequemlichkeit und Effizienz.
Touristifizierung verhält sich zum Leben wie ein Tourist zu einem Abenteurer oder Flaneur; sie besteht darin, Aktivitäten – und zwar nicht nur Reisen – in das Äquivalent eines Drehbuchskripts zu verwandeln. Es wird zu zeigen sein, wie Touristifizierung Systeme und Organismen, die mit Ungewissheit gut zurechtkommen, kastriert, indem sie ihnen Zufälligkeit bis auf den letzten Tropfen aussaugt und dabei noch vorgaukelt, es handle sich um eine Wohltat. Die Schuldigen sind das Erziehungssystem, das Planungswesen, mit Fördermitteln betriebene teleologisch ausgerichtete Forschung, das französische Bakkalaureat, Fitnessgeräte und vieles mehr.
Und der elektronische Kalender.
Die schlimmste Touristifizierung aber ist das Leben in Gefangenschaft, das wir Menschen der Moderne in unserer Freizeit zu leben gezwungen sind: der Freitagabend in der Oper, die planmäßigen Partys, das planmäßige Gelächter. Auch hier wieder: der goldene Käfig.
Diese Grundhaltung der »Zielorientiertheit« verletzt mich bis ins Innerste.
Der geheime Hunger nach Zufall
Womit ich zum existentiellen
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