Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Schiff, das natürlich von einem Kapitän überwacht und gesteuert werden müsse. Dabei wären die Einzigen, die als Kapitäne für dieses Schiff taugten, Philosophenkönige, rechtgesonnene Männer mit absoluter Macht, die Zugang haben zur Idee des Guten selbst. Und ab und zu sind vereinzelt Rufe zu vernehmen: »Wer regiert uns eigentlich?« – als ob die Welt jemanden bräuchte, der sie regiert.
Nicht schon wieder Gleichgewicht!
Sozialwissenschaftler verwenden den Begriff »Gleichgewicht«, um die Balance zwischen entgegengesetzten Kräften zu beschreiben, etwa zwischen Angebot und Nachfrage. Kleinere Veränderungen oder Ausschläge in die eine Richtung werden wie bei einem Pendel ausgeglichen durch eine Korrektur in die entgegengesetzte Richtung, womit die Stabilität der Verhältnisse wiederhergestellt ist. Kurz gesagt ist das das Ziel der Wirtschaft.
Schaut man sich genauer an, wohin die Sozialwissenschaftler uns manövrieren wollen, dann muss man allerdings feststellen, dass ein solches Ziel tödlich sein kann. Der Komplexitätstheoretiker Stuart Kauffman nimmt die Trennung zwischen den beiden unterschiedlichen Welten von Tabelle 2 mit Hilfe der Idee des Gleichgewichts vor. Für das Nicht-Organische, Nicht-Komplexe, beispielsweise irgendein Objekt auf dem Tisch, ist Gleichgewicht (nach der traditionellen Definition) dasselbe wie Unbeweglichkeit. Für das Organische tritt der Zustand eines so verstandenen Gleichgewichts erst mit dem Tod ein. Kauffman nennt als Beispiel einen Strudel, der in einer Badewanne entsteht und sich eine Zeitlang aufrechterhält. Derartige Strukturen sind dauerhaft »weit entfernt von Gleichgewichtszuständen« – und es hat ganz den Anschein, als wäre das genau der Zustand von Organismen und dynamischen Systemen. 14 Der Zustand der Normalität ist bei Organismen und dynamischen Systemen abhängig von einem gewissen Maß an Volatilität, an Zufälligkeit, an ständigem Informationsaustausch und Stress. Wird ihnen diese Volatilität vorenthalten, kann das schädliche Folgen haben.
Verbrechen gegen Kinder
Wir haben nicht nur eine Abneigung gegen Stressoren und verstehen sie nicht, wir begehen auch, indem wir Volatilität und Variabilität ausschließen wollen, Verbrechen gegen das Leben, die Wissenschaft und die Weisheit.
Der Umstand, dass einer von zehn erwachsenen Amerikanern Antidepressiva wie Prozac schluckt, empört und frustriert mich zutiefst. Mittlerweile sind wir ja schon so weit, dass man sich, wenn man nicht ständig gleichmäßig gute Laune hat, dafür entschuldigen muss, dass man keine Medikamente nimmt. Einige wenige gute Gründe für solche Medikamente mag es in pathologischen Fällen geben; für mich sind meine Stimmung, meine Traurigkeit, meine Angstzustände eine zweite Quelle der Intelligenz, wenn nicht womöglich gar die erste. Wenn im Herbst der Regen gegen das Fenster rauscht – Verlaine nennt das Geräusch herbstliches »Schluchzen« –, lässt meine physische Energie nach, ich werde nachdenklicher, meditativer, ich schreibe mehr, aber langsamer. Manchmal packt mich die Melancholie, der Zustand, der im Portugiesischen saudade heißt; die Türken bezeichnen die Melancholie mit dem Wort hüzün (vom arabischen Wort für Traurigkeit). An anderen Tagen bin ich aggressiver, energiegeladener – dann schreibe ich weniger, mache mehr Spaziergänge, unternehme andere Dinge, diskutiere mit Forschern, beantworte E-Mails, zeichne Kurven auf Schautafeln. Will man ein Gemüse oder einen glücklichen Schwachkopf aus mir machen? Wenn es in den letzten Jahrhunderten Prozac gegeben hätte, wären der »Spleen« Baudelaires, Edgar Allan Poes düstere Stimmungen, Sylvia Plaths Gedichte, die Elegien so vieler anderer Dichter – alles, was eine Seele in sich birgt – zum Schweigen gebracht worden. Wenn große pharmazeutische Firmen dazu in der Lage wären, die Jahreszeiten abzuschaffen, würden sie das wahrscheinlich – natürlich nur, wenn es sich auszahlt – tun.
Eine weitere Gefahr: Wenn wir unseren Kindern Schaden zufügen, schaden wir der Gesellschaft und unserer Zukunft. Maßnahmen, die darauf zielen, Veränderungen und Schwankungen im Leben von Kindern zu reduzieren, reduzieren auch Veränderungen und Unterschiede in unserer angeblich so großartigen kulturell globalisierten Gesellschaft.
Dolmetscher schaden nur
Eine andere vergessene Eigenschaft von Stressoren tritt beim Spracherwerb auf – ich kenne niemanden, der seine Muttersprache aus einem Lehrbuch gelernt,
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