Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
deren Defekte zu reduzieren. Genau wie bei Buridans Esel hat die Hitze zur Folge, dass die Atome aus ihrer ursprünglichen Lage gelöst werden und in eine zufällige Bewegung durch höhere Energiezustände versetzt werden; das Ausglühen bietet ihnen dann mehr Möglichkeiten, sich in neue, bessere Strukturen einzugliedern.
Als Kind wurde ich immer wieder Zeuge einer Variante dieses Ausglüheffekts: Mein Vater, ein Mann mit festen Gewohnheiten, klopfte jeden Tag, wenn er nach Hause kam, gegen ein hölzernes Barometer. Er versetzte ihm einen leichten Stoß und las dann die hausgemachte Wettervorhersage ab. Der Schubs, den das Barometer abbekam, lockerte die Nadel und machte es möglich, dass sie ihre eigentliche Gleichgewichtsposition fand – eine häusliche Variante von Antifragilität. Inspiriert von der Technik aus der Metallurgie arbeiten Mathematiker mit einer Methode der Computersimulation, dem so genannten simulierten Ausglühen, um generellere optimale Lösungen von Problemen und Situationen einzubringen, Lösungen, die nur Zufälligkeit liefern kann.
Auch bei Suchaktionen kann Zufälligkeit hilfreich sein – manchmal mehr als von Menschen ersonnene Methoden. Nathan Myhrvold machte mich auf einen kontrovers diskutierten Aufsatz aufmerksam, der 1975 in Science veröffentlicht und in dem gezeigt wurde, dass zufällige Bohrungen jeder damals eingesetzten Methode überlegen waren.
Und ironischerweise lassen sich so genannte chaotische Systeme, die einer Chaos genannten Art von Variationen unterworfen werden, dadurch stabilisieren, dass man Zufälligkeit hinzufügt. Ich war einmal Zeuge einer unheimlichen Demonstration dieser Effekte. Ein Doktorand ließ zunächst auf einem Tisch, dessen Oberfläche ständig vibrierte, chaotisch Bälle hüpfen. Die gleichmäßigen Stöße ließen die Bälle in ungeordneter, unschöner Weise durcheinanderhüpfen. Dann bewegte er einen Schalter, und wie durch Zauberhand wurden die Sprünge geordnet und gleichmäßig. Der Zauber bestand darin, dass dieser Verlaufswechsel vom Chaos zur Ordnung nicht dadurch zustande kam, dass man das Chaos wegnahm, sondern indem zufällige, ganz und gar zufällige Schocks niedriger Intensität hinzugefügt wurden. Nach diesem wunderschönen Experiment war ich derart begeistert, dass ich am liebsten wildfremden Passanten auf der Straße verkündet hätte: »Zufälligkeit ist SO super!«
Das Ausglühverfahren in der Politik
Echten Menschen zu erklären, dass Stressoren und Ungewissheit im Leben eine wichtige Rolle spielen, war schon schwer genug – man kann sich vorstellen, welche Verständnisprobleme dann erst bei Politikern auftreten. Allerdings wäre gerade hier ein gewisses Maß an Zufälligkeit am nötigsten.
Mir wurde einmal das Skript eines Films gezeigt, das auf der Geschichte einer Stadt beruht, welche vollständig vom Zufall beherrscht wird – es erinnerte stark an Geschichten von Borges. In festgesetzten Abständen weist der Herrscher den Bewohnern zufällig neue Rollen zu. So wurde etwa der Metzger dann Bäcker, der Bäcker Gefängnisinsasse und so weiter. Letztlich rebellieren die Menschen gegen den Herrscher und fordern Stabilität als ihr unveräußerliches Recht ein.
Ich dachte spontan, man müsse doch vielleicht eine umgekehrte Geschichte schreiben: Statt dass die Herrscher die Aufgaben der Bürger nach dem Zufallsprinzip verteilen, sollten umgekehrt die Bürger dasselbe mit den Regierungsposten machen – die Herrschenden sollten durch Los bestimmt und nach demselben Zufallsprinzip auch wieder abgesetzt werden. Das entspricht dem simulierten Ausglühen – und es ist nicht weniger effektiv. Die Menschen in der Antike – immer diese Alten! – waren sich dessen offenbar bereits bewusst: Die Mitglieder der Athener Volksversammlung wurden durch Los bestimmt, mit dieser Methode sollte einer Degenerierung des Systems vorgebeugt werden. Glücklicherweise wurde dieser Effekt auch für moderne politische Systeme untersucht. In einer Computersimulation zeigten Alessandro Pluchino und seine Kollegen, dass die Arbeitsweise des parlamentarischen Systems durch die Hinzufügung einer bestimmten Anzahl zufällig ausgewählter Politiker verbessert werden kann.
Manchmal profitiert das System auch von einer anderen Art von Stressoren. Voltaire vertrat die Auffassung, die beste Regierungsform sei diejenige, die durch politische Morde reguliert werde. Der Königsmord ist in gewisser Hinsicht das Äquivalent des kleinen Stoßes am Barometer.
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