Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Rolle: Diese Stabilität gleicht einem Darlehen, das man irgendwann zurückzahlen muss.
Hinzu kommen moralische Gesichtspunkte, die ich in Kapitel 24 ansprechen werde, vor allem die spitzfindige Rechtfertigung, man tue etwas »um einer anderen Sache willen«, wenn man eigentlich unantastbare moralische Regeln verletzt. 29 Nur wenige Menschen sind sich darüber im Klaren, dass die Iraner den Vereinigten Staaten gegenüber deswegen so verbittert sind, weil diese – immerhin eine Demokratie – im Iran einen Monarchen, den repressiven iranischen Schah, auf den Thron setzten, der das Land ausbeutete, aber den USA die »Stabilität« eines Zugangs zum Persischen Golf sicherte. Das theokratische Regime im heutigen Iran ist ganz überwiegend das Resultat dieser Unterdrückung. Wir müssen lernen, in zweiten Schritten zu denken, in Wirkungsketten und Nebenwirkungen.
Noch besorgniserregender: Die Nahostpolitik der USA hat historisch und vor allem seit dem 11. September 2001 unter dem Vorzeichen der Unterbindung von »islamistischem Fundamentalismus« (ein Schlagwort, das fast jede Regierung benutzt hat) unverhältnismäßig viel Gewicht auf die Unterdrückung sämtlicher politischen Strömungen gelegt. Abgesehen von dem Umstand, dass das Umbringen von Islamisten ihre Anzahl vergrößert, haben der Westen und seine autokratischen arabischen Verbündeten die islamistischen Fundamentalisten gestärkt, indem sie sie in den Untergrund zwangen.
Es ist an der Zeit, dass amerikanische Politiker endlich eines verstehen: Je mehr sie in anderen Ländern mit der Absicht intervenieren, die Stabilität zu erhöhen, desto mehr Instabilität verursachen sie (abgesehen von Notfall-Situationen). Oder vielleicht ist es auch einfach an der Zeit, den Einfluss von Politikern auf die Politik einzuschränken.
Eines der vom Leben selbst geschnürten Bündel: Stabilität ist ohne Volatilität nicht zu haben.
Mein Begriff von Modernität
Ich verstehe unter Modernität die weit ausgreifende Beherrschung der Umwelt durch den Menschen, die systematische Abstumpfung der Ecken und Kanten der Welt, das Abwürgen von Volatilität und Stressoren.
Modernität bedeutet – in körperlicher und sozialer, ja sogar in erkenntnistheoretischer Hinsicht – die systematische Entfernung der Menschen aus ihrer mit Zufällen gespickten Umwelt. Modernität ist nicht lediglich die in Soziologie-Lehrbüchern dargestellte postmittelalterliche, postagrarische und postfeudale historische Periode. Es handelt sich vielmehr um ein Zeitalter, das vom Geist eines naiven Rationalismus geprägt ist, von der Vorstellung, die Gesellschaft sei verstehbar und müsse daher von Menschen durchgeplant werden. Damit geht die Geburt der Statistik einher, also die grässliche Glockenkurve. Und die lineare Wissenschaft. Und die Vorstellung von »Effizienz« beziehungsweise Optimierung.
Modernität ist, im guten oder schlechten Sinne, ein Prokrustesbett – eine Reduzierung des Menschen auf das scheinbar Effiziente und Nützliche. Dabei sind manche Aspekte möglicherweise sinnvoll: Prokrustesbetten müssen nicht unbedingt negative Reduktionen sein, manche – aber nur wenige – sind unter Umständen nützlich.
Man denke nur an das behagliche, berechenbare Leben eines Löwen im Zoo (und an die Sonntagnachmittagsbesucher, die sich um seinen Käfig herum versammeln und ihn mit einer Mischung aus Neugier, Ehrfurcht und Mitleid anstaunen) und vergleiche es mit dem seiner freien Vettern. Irgendwann einmal, bevor das goldene Zeitalter der Übermuttis anbrach, waren wir Freiland-Menschen mit Freiland-Kindern.
Wir erreichen eine Phase der Moderne, die gekennzeichnet ist durch den Lobbyisten, die Gesellschaft mit sehr, sehr beschränkter Haftung, den graduierten Betriebswirt, durch Dummkopfprobleme und die Säkularisierung (oder besser gesagt die Erfindung neuer heiliger Werte wie etwa Fahnen, die an die Stelle von Altären treten); eine Phase, die gekennzeichnet ist durch den Steuereintreiber, die Furcht vor dem Chef, das Wochenende an interessanten (und die Arbeitswoche an vermeintlich weniger interessanten) Orten; eine Phase der Trennung zwischen »Arbeit« und »Freizeit« (obwohl die beiden Bereiche für einen Menschen aus einem weiseren Zeitalter wohl identisch aussehen würden), des Rentenplans, streitsüchtiger Intellektueller, die dieser Definition der Moderne widersprechen würden; eine Phase eindimensionalen Denkens, induktiver Inferenz, Wissenschaftsphilosophie, der Erfindung der
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