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Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Titel: Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nassim Nicholas Taleb
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werde mit jedem Tag sicherer, und natürlich schreiben sie das naiverweise der Existenz des heiligen »Staates« zu (obwohl die von unten nach oben organisierte Schweiz ungefähr die niedrigste Kriminalitätsrate weltweit hat). Mit dem gleichen Recht könnte man behaupten, Atombomben seien sicherer, weil sie seltener explodieren. Es ereignen sich weltweit immer weniger Gewaltakte, doch das, was Kriege anzurichten imstande sind, wird immer entsetzlicher. In den 1960er Jahren, als die Vereinigten Staaten mit einem Atombombenangriff auf die Sowjetunion drohten, stand die Menschheit unmittelbar am Rand der schlimmsten aller denkbaren Katastrophen. Wenn wir uns mit den Risiken in Extremistan befassen, suchen wir nicht nach Hinweisen (Hinweise kommen zu spät), sondern nach dem möglichen Schaden: Einem verheerenderen Schaden war die Welt nie zuvor näher als damals. 27 Es ist schwer, datenhörigen Menschen zu erklären, dass die Risiken sich in der Zukunft befinden, nicht in der Vergangenheit.
    Das chaotische, multiethnische Imperium, die so genannte Österreichisch-Ungarische Doppelmonarchie, verschwand nach dem Ersten Weltkrieg ebenso wie sein osmanischer Nachbar und Rivale (und in vielerlei Hinsicht auch sein Bruder – aber nicht weitersagen), und beide wurden durch klare, sauber abgegrenzte Nationalstaaten ersetzt. Das Osmanische Reich mit seinen wirren Nationalitäten – oder besser gesagt das, was davon übrig war – wurde zum Staat Türkei, der nach dem Vorbild der Schweiz aufgebaut wurde, ohne dass jemandem die Widersprüchlichkeit aufgefallen wäre. Wien sah sich auf einmal vom Staat Österreich vereinnahmt, mit dem es – abgesehen von der Sprache – nur wenig gemein hatte. Man stelle sich vor, New York City würde nach Texas verpflanzt und nach wie vor New York heißen. Stefan Zweig, der jüdische Romancier aus Wien, der damals als einflussreichster Schriftsteller der Welt galt, brachte seinen Schmerz in seiner ergreifenden Autobiographie Die Welt von Gestern zum Ausdruck. Wien reihte sich in die Gruppe multikultureller Städte wie Alexandria, Smyrna, Aleppo, Prag, Thessaloniki, Konstantinopel (später Istanbul) und Triest ein, die heute in das Prokrustesbett eines Nationalstaats gezwängt sind und deren Bürger nach wie vor im Schatten einer generationenübergreifenden Nostalgie leben. Zweig war außerstande, mit dem Verlust fertigzuwerden und sich andernorts zu integrieren, er beging später in Brasilien Selbstmord. Ich las seinen Bericht zum ersten Mal, als ich mich in einer ähnlichen Situation des physischen und kulturellen Exils befand – damals, als meine levantinische christliche Welt im libanesischen Krieg in Scherben fiel, und ich fragte mich, ob Zweig wohl am Leben geblieben wäre, wenn er nicht nach Brasilien, sondern nach New York ausgewandert wäre.
    22 Das ökonomische Argument, dass autonome Stadtstaaten wirtschaftlich besonders erfolgreich waren, das – nicht ohne einen gewissen verklärenden Unterton – von Henri Pirenne oder Max Weber vorgebracht wurde, übergehe ich; mein (mathematisches) Argument lautet, dass eine Reihe kleiner Einheiten mit halb-unabhängigen Variationen ganz andere Risikomerkmale erzeugt als eine einzige große Einheit.
    23 Quälend nutzlos sind Diskussionen um politische Systeme, in denen Länder verglichen werden, deren Größe nicht annähernd gleich ist, wenn man etwa Singapur neben Malaysia stellt. Die Größe einer Einheit spielt eine wichtigere Rolle als das System.
    24 Glücklicherweise ist die EU vor Überzentralisation dank des Subsidiaritätsprinzips gesetzlich geschützt: Regelungen müssen in einem Rahmen getroffen werden, der groß genug ist, dass effizient agiert werden kann, aber nicht größer. Die Idee stammt aus der katholischen Kirche: Philosophisch gesehen sollte der Umfang einer Einrichtung weder sehr groß (der Staat) noch sehr klein (das Individuum) sein, sondern irgendwo dazwischen. Das ist ein sehr triftiger philosophischer Grundsatz, vor allem im Hinblick einerseits auf die Übertragungen von Fragilität, die ich im vierten Kapitel angesprochen habe, und andererseits auf die Vorstellung, dass Größe fragilisiert, worauf ich später noch ausführlich zu sprechen komme.
    25 Wenn Zufälligkeit in Form von kleinen wiederkehrenden politischen Störungen über eine große Anzahl kleiner Einheiten verteilt auftritt, gelangt man zum ersten Typ, dem ungefährlichen Mediokristan. Wo Zufälligkeit konzentriert auftritt, hat das den zweiten Typ zur

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