Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Auch Königsmord hat eine manchmal bitter notwendige Umstrukturierung zur Folge – die freiwillig nie vorgenommen worden wäre. Die so entstandene Leere an der Spitze löst den Ausglüheffekt aus, in dem sich der neue Herrscher herauskristallisieren kann. Der allgemeine Rückgang vorzeitiger Todesfälle in der Gesellschaft hat uns einen solchen naturalistischen Wechsel in Führungspositionen genommen. Mord ist in der Mafia das Standardverfahren zur Klärung von Nachfolgefragen (der letzte öffentlich bekannt gewordene Ausglühprozess fand statt, als John Gotti, um selbst Chef der Familie zu werden, seinen Vorgänger vor einem Steakhouse in New York ermordete). Außerhalb der Mafia haben Chefs und Aufsichtsratsmitglieder heutzutage eine längere Verweildauer, ein Umstand, der auf vielen Gebieten hinderlich ist: Vorstandsvorsitzende, Lehrstuhlinhaber, Politiker, Journalisten – man sollte diesen Umstand mit der Einführung von Losverfahren ausgleichen.
Fatalerweise ist es nicht möglich, eine politische Partei mit einem Zufallsverfahren abzuschaffen. In den USA ist nicht das Zweiparteiensystem als solches ein Problem, sondern der Umstand, dass sich das Land zwischen den immer gleichen Parteien festgefahren hat. Parteien haben kein organisches, eingebautes Verfallsdatum.
Die Alten perfektionierten die Anwendung von Zufallsverfahren in mehr oder weniger schwierigen Situationen – und machten sie zum Bestandteil von Prophezeiungen. Dabei ging es darum, ein zufälliges Ergebnis zu ermitteln, ohne dass eine Entscheidung gefällt werden musste und man später mit der Last der Konsequenzen zu leben hatte. Man tat das, was die Götter einem sagten, und musste sich nicht anschließend im Nachhinein in Selbstkritik üben. Zu diesen Methoden gehörten unter anderem die sortes virgilianae (das Schicksal, wie es der Ependichter Vergil vorgab). Dafür schlug man eine zufällige Seite in Vergils Aeneis auf und interpretierte die so gefundene Zeile als Handlungsanweisung. Man sollte sich dieser Methode bei jeder schwierigen geschäftlichen Entscheidung bedienen. Ich wiederhole es, bis mir die Stimme wegbleibt: Die Alten verfügten über verborgene und ausgeklügelte Wege und Tricks, Zufälligkeit in ihr Handeln mit einzubeziehen. Ich arbeite mit dieser zufallsorientierten Heuristik beispielsweise in Restaurants. Der Umfang und die Komplexität von Speisekarten versetzen mich immer wieder in den Zustand, der von Psychologen als die »Tyrannei der Wahl« bezeichnet wird: Ich werde nach der Bestellung das nagende Gefühl nicht los, dass ich etwas anderes hätte nehmen sollen, weshalb ich mich einfach blindlings und systematisch an dem orientiere, was der dickste männliche Tischgenosse bestellt; ist keine solche Person anwesend, tippe ich einfach auf irgendetwas in der Speisekarte, ohne die jeweilige Bezeichnung zur Kenntnis zu nehmen, und kann mich in der zufriedenen Gewissheit wiegen, dass Baal für mich gewählt hat.
Die Zeitbombe namens Stabilität
Das Ausbleiben kleinerer Feuer hat, wie wir gesehen haben, zur Folge, dass sich immer mehr leicht entflammbares Material ansammelt. Wenn ich erwähne, dass das Fehlen von politischer Instabilität bis hin zu Kriegen zur Folge hat, dass sich explosive Tendenzen unter der Oberfläche akkumulieren, sind meine Zuhörer meistens schockiert und empört.
Der zweite Schritt: Können (kleine) Kriege Leben retten?
Von dem Anti-Aufklärungsphilosophen Joseph de Maistre stammt die Bemerkung, Konflikte würden Länder stärker machen. Eine höchst fragwürdige These – Krieg ist kein positiver Wert, und als Opfer eines brutalen Bürgerkriegs weiß ich nur zu gut um die Schrecken des Krieges. Was ich allerdings an seiner Argumentation interessant – und elegant – finde, ist der Hinweis darauf, dass man zwar die negativen Aspekte eines gegebenen Ereignisses analysiert, dabei aber fälschlicherweise alles andere unbeachtet lässt. Des Weiteren ist interessant, dass die meisten Menschen das Gegenteil leichter begreifen – also den Irrtum bemerken, der darin besteht, dass man den unmittelbaren Nutzen analysiert, ohne die langfristigen Nebenwirkungen zu bedenken. Denn wir betrachten Ausfälle als Verluste, ohne den zweiten Schritt zu tun, also das, was danach kommt, in den Blick zu nehmen – im Unterschied zum Gärtner, der genau weiß, dass es einen Baum stärkt, wenn er beschnitten wird.
Und Friede – erzwungener, unnatürlicher Friede – kann Menschenleben kosten: Man denke nur an die
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