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Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Titel: Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nassim Nicholas Taleb
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Bemühungen führten, wenn auch verspätet, zum Erfolg. Die Moral aus der Geschichte: Man sollte keine Lorbeeren erwarten, wenn man die Wahrheit verkündet.
    Auf dem Gebiet der Iatrogenik ist die Medizin vergleichsweise harmlos, steht damit aber allein. Hier ist das Problem deutlich erkennbar, da man heute versucht, es zu kontrollieren; man bezieht den Kostenaspekt mit ein, und doch kommen durch ärztliche Behandlungsfehler in den Vereinigten Staaten immer noch drei- (nach Angaben der Ärzte) bis zehnmal mehr Menschen um als durch Autounfälle. Es ist allgemein anerkannt, dass von Ärzten angerichtete Schäden mehr Todesfälle verursachen als irgendeine einzelne Krebsart, wobei die von Krankenhauskeimen ausgehenden Risiken noch gar nicht mitgerechnet sind. Die Methodik, nach der das ärztliche Gewerbe bei der Entscheidungsfindung vorgeht, ist noch frei von ordentlichen Risikomanagementprinzipien, doch sie wird besser. Was Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass von Pharmazieunternehmen, Lobbyisten und speziellen Interessengruppen ein Anreiz geschaffen wird, mehr Behandlungen als nötig vorzunehmen; und dass es zu Schädigungen kommt, die nicht unmittelbar auffallen und daher auch nicht als »Irrtum« gewertet werden. Die Pharmaindustrie setzt auf verschleierte und gestreute iatrogene Effekte, in ständig zunehmendem Ausmaß. Es ist leicht, etwas als iatrogenen Effekt zu identifizieren, wenn ein Chirurg das falsche Bein amputiert oder die falsche Niere operiert, oder wenn ein Patient als Reaktion auf ein Medikament stirbt. Wenn allerdings ein Kind aufgrund einer eingebildeten oder erfundenen psychischen Erkrankung wie beispielsweise ADHS oder Depression medikamentös behandelt wird, anstatt dass man es aus seinem Käfig entlässt, wird der damit angerichtete langfristige Schaden meistens nicht registriert und berücksichtigt.
    Iatrogenik hängt mit dem »Agency-Problem« oder »Prinzipal-Agent-Problem« zusammen. Es tritt auf, wenn eine Seite (der »Agent«, der Beauftragte) persönliche Interessen verfolgt, die mit den Interessen desjenigen, der seine Dienste in Anspruch nimmt (des »Prinzipals«, des Auftraggebers), nicht übereinstimmen. Ein Agency-Problem liegt beispielsweise bei einem Börsenmakler oder Arzt vor, deren eigentliches Interesse ihr persönliches Bankkonto ist und nicht das finanzielle oder gesundheitliche Wohlergehen ihrer Kunden; die also entsprechend Ratschläge geben, die letztlich ihnen selbst und nicht ihren Kunden nützen. Eine weitere Gruppe, auf die das zutrifft, sind Politiker, die an ihrer Karriere arbeiten.
    Oberste Regel: Keinen Schaden anrichten
    Die Medizin ist sich über das Prinzip der Iatrogenik seit mindestens dem 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung im Klaren – primum non nocere (»Vor allem nicht schaden«) lautet die erste Regel, die Hippokrates zugeschrieben wird und zum so genannten Hippokratischen Eid gehört, den jeder Arzt zu Beginn seiner Berufslaufbahn ablegen muss. Etwa 24 Jahrhunderte brauchte die Medizin, um diese brillante Idee wirklich umzusetzen. Obwohl der Merkspruch des non nocere in jedem Zeitalter unzählige Male wiederholt wurde, tauchte der Terminus »Iatrogenik« erst sehr spät auf, vor wenigen Jahrzehnten – nachdem schon enormer Schaden angerichtet worden war. Ich selbst lernte den Begriff erst kennen, als mich der Schriftsteller Bryan Appleyard darauf aufmerksam machte (ich hatte davor von »nicht beabsichtigten schädlichen Nebenwirkungen« gesprochen). Verlassen wir also den Bereich der Medizin (in ungefähr zwölf Kapiteln komme ich noch einmal darauf zurück) und übertragen diese in der Heilkunst entstandene Vorstellung auf andere Lebensbereiche. Da der Verzicht auf Eingreifen es notwendig mit sich bringt, dass auch keine Nebenwirkungen entstehen, liegt die Wurzel des Übels in der Verleugnung von Antifragilität und in dem Eindruck, wir Menschen wären ach so unentbehrlich dafür, dass die Dinge ihren geregelten Gang gehen.
    Man nimmt sich eine gewaltige Aufgabe vor, wenn man ein allgemeines Bewusstsein für iatrogene Effekte wecken will. Eine Vorstellung davon, was Iatrogenik ist, existiert in den Diskursen außerhalb der Medizin nicht (und auch die Medizin hat sich hier, wie gesagt, als ein langsamer Schüler erwiesen). Aber es ist wie mit der Farbe Blau: Wenn man einmal ein Wort dafür hat, ist das für die Verbreitung einer Vorstellung sehr nützlich. Ich möchte die Idee der iatrogenen Effekte in die Politikwissenschaft einbringen, in die

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