Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Empfehlung. Die Morbiditätsrate bei dieser Krankheit liegt bei 2 bis 4 Prozent (heute, nicht damals; damals waren die Operationsrisiken sehr hoch), und in einem von 15000 Fällen stirbt die Person an der Operation – so erhält man eine gewisse Vorstellung von der Rentabilitätsschwelle zwischen medizinischem Nutzen und Schaden.
Dieser Fall illustriert die Reinform von wahrscheinlichkeitsorientierter Menschenvernichtung in Aktion. Bei jedem Kind, das einer unnötigen Operation unterzogen wird, verringert sich die Lebenserwartung. Das Beispiel vermittelt nicht nur eine Vorstellung von dem Schaden, der durch Eingreifen angerichtet wird, sondern, schlimmer noch, es illustriert, dass kein Bewusstsein da ist für die Notwendigkeit, eine Rentabilitätsschwelle zwischen Nutzen und Schaden zu ermitteln.
Ich bezeichne diesen Drang zu helfen als »naiven Interventionismus«. Schauen wir uns nun die Kosten genauer an.
Intervention und Iatrogenik
Im Fall der Mandeloperationen ist der Schaden, den die Kinder durch eine unnötige Behandlung erlitten, an den herausposaunten Nutzen, den ein paar wenige andere möglicherweise davon hatten, gekoppelt. Die Bezeichnung für derartige Nettoverluste, für den (normalerweise versteckten oder erst spät enthüllten) Schaden, der aufgrund einer Behandlung angerichtet wird und der den Nutzen übersteigt, lautet Iatrogenik – wörtlich: »vom Heiler verursacht« (Iatros ist die griechische Bezeichnung für Heiler). Ich werde in Kapitel 21 zeigen, dass man bei jedem Arztbesuch, der eine bestimmte Behandlung zur Folge hat, das Risiko eingeht, Opfer eines solchen medizinischen Schadens zu werden. Es empfiehlt sich also, hier genauso vorzugehen wie bei jeder anderen Güterabwägung: indem man vom wahrscheinlichen Nutzen die wahrscheinlichen Kosten abzieht.
Ein klassisches Beispiel für Iatrogenik ist der Tod von George Washington im Dezember 1799 – es gibt mehr als genug Hinweise darauf, dass die Ärzte seinen Tod mit verursachten, ihn in jedem Fall stark beschleunigten, indem sie ihren Patienten der damaligen Standardbehandlung unterzogen und zur Ader ließen (was eine Entnahme von 5 bis 9 Pounds Blut bedeutete).
Die Risiken durch den vom Arzt verursachten Schaden werden normalerweise übersehen, weshalb es auch kaum jemandem bewusst ist, dass die Medizin vor der Einführung von Penicillin eine weitgehend negative Bilanz hatte – wer zum Arzt ging, erhöhte seine Wahrscheinlichkeit zu sterben. Und bezeichnenderweise nahmen die iatrogenen Effekte in der Medizin mit der Zeit parallel zur Erweiterung des Wissens zu, um irgendwann gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen Gipfelpunkt zu erreichen. Wie haben wir es doch in der Moderne so herrlich weit gebracht: Der »wissenschaftliche Fortschritt«, die Geburt der Klinik und in ihrer Folge die Verdrängung von Hausmitteln führten dazu, dass die Sterberaten in die Höhe schossen, was vor allem auf das damals so genannte Hospitalfieber zurückzuführen war – Leibniz hatte Krankenhäuser als seminaria mortis , Saatbeete des Todes, bezeichnet. Der Umstand, dass die Sterberaten in die Höhe gingen, machte sich mit brutaler Eindeutigkeit bemerkbar, da jetzt alle Opfer an einem Ort versammelt waren: Menschen, die außerhalb überlebt hätten, starben in den Krankenhäusern. Der berühmte, verkannte österreichisch-ungarische Arzt Ignaz Semmelweis hatte beobachtet, dass es mehr Todesfälle bei gebärenden Frauen in Krankenhäusern gab als unter den Frauen, die ihr Kind auf der Straße bekamen. Er bezeichnete die Ärzte seiner Zeit als eine Bande Krimineller – womit er recht hatte; allerdings konnten die Ärzte, die reihenweise ihre Patienten umbrachten, seine Fakten nicht akzeptieren oder ihr Handeln ändern, da er »keine Theorie« für seine Beobachtungen vorlegen konnte. Semmelweis wurde depressiv – er war außerstande, das aufzuhalten, was er als Mord einschätzte, und zutiefst abgestoßen von der Haltung seiner Zunft. Er wurde später in eine Nervenheilanstalt eingewiesen, wo er ironischerweise an eben dem Hospitalfieber starb, vor dem er gewarnt hatte.
Die Geschichte von Semmelweis ist traurig: Ein Mann wurde dafür, dass er die Wahrheit herausschrie, um andere zu retten, bestraft, erniedrigt und kam sogar zu Tode. Die schlimmste Bestrafung war seine Hilflosigkeit angesichts der Risiken und dem unfairen Umgang mit seinen Beobachtungen. Doch hat die Geschichte auch eine gute Seite: Die Wahrheit kam doch noch an den Tag, und seine
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