Antiheld (German Edition)
Fresse meines Alten sehen muss.
Da ist er: Sieht aus wie ein französischer Regisseur, wie ein Truffaut oder Godard. Seinen Kaffee trinkt er natürlich schwarz und raucht kurze Zigarillos. Im Grunde ist er ein verkrampfter Bildungsbürger, der seine widerliche Gesinnung mit einem pädagogischen Touch kombiniert. Der Vater ist auch dein bester Freund. Sein Gemüt ist allerdings wie sein Händedruck: unangenehm schlaff. Ich wünschte, er würde zum Islam konvertieren und sich in einem Camp im Libanon als Terrorist ausbilden lassen, dann könnte ich ihn wenigstens respektieren. So muss ich ihn auslachen.
Meine Schwester hat es da besser, sie ist einfacher gestrickt. Dreizehn Jahre alt und schert sich einen Scheißdreck um alles. Hauptsache, das Taschengeld reicht für Nuttenschminke.
Mein Vater grinst dumm in die Runde und nippt an seinem Kaffee. Natürlich liebt er das Theater. Er besitzt ein Abo und findet Schlingensief ganz prima . Gefickt hat er bestimmt seit zehn Jahren nicht mehr. Er bleibt ein blutleerer 68er, der irgendwann im Physik-Studium die Welt der Bytes entdeckt hat und heute Programme für die Rüstungsindustrie schreibt.
Während er also abends in der Theaterloge sitzt und sich an einem Weißwein nippend Hochkultur ansieht, zerfetzen Bomben, die durch die von ihm entworfenen Chips gelenkt werden, Negerkindern die Leiber. Bei meinem Vater begann die Revolution mit dem Traum von einer rostigen AK 47 und der Befreiung irgendwelcher minderwertigen Völker und endete nach dem Blick auf den ersten Gehaltsscheck.
Jetzt sind nur noch Reste von diesem Traum übrig. Gedankliche Ruinen, die er manchmal besucht, und dann wird er unglaublich melancholisch und faselt was von Brüderlichkeit und Solidarität. Begriffe, die schon lange in die rhetorische Gaskammer gehören.
Ich würde ihm gerne etwas Nettes sagen, aber ich kann nicht. Immer wenn er mich aus dieser Truffaut-Fresse ansieht, mit diesem affektierten, schiefen Lächeln, das sagen soll «Ich verstehe dich, Andor», bin ich kurz davor, mich zu erbrechen, direkt auf seine Strickjacke aus blauer Schurwolle.
Natürlich versteht er nichts . Er steht nur da und starrt bewegungslos aus dem Fenster. Der Löffel in seiner Kaffeetasse zittert. Im Aschenbecher drei Zigarillo-Stummel. Als er mich bemerkt, sieht er desinteressiert an mir vorbei, doch ich nicke ihm zu und nehme Haltung an. Dann schnellt mein rechter Arm zum Gruß nach vorne.
«Ein neuer Glaube ist heute im Entstehen begriffen: Der Mythos des Blutes, der Glaube, mit dem Blute das göttliche Wesen des Menschen zu verteidigen. Guten Morgen, mein Führer!», brülle ich und warte einen Moment ab.
Wie gesagt: Da ist nichts . Der traurige Möchtegern-Rudi-Dutschke zieht nur seine Mundwinkel nach unten und zündet einen neuen Zigarillo an. Meine Schwester beginnt zu stänkern: «Du bist total peinlich!»
«Deine ausgelutschte Vulva, in die deine gesamte Stufe abgespritzt zu haben scheint, ist peinlich, du kleine Drecksau …»
«Bitte, Andor!»
« Ja, mein Führer?» Ich packe grinsend Rucksack und Skateboard und bin aus der Tür.
Wenn ich auf dem Board stehe und über den glatten Asphalt rolle, dann, und nur dann, bin ich ganz bei mir. Ich denke nichts. Vor allem denke ich nicht über mein beschissenes Leben nach. Morgens um halb acht sieht die Welt noch in Ordnung aus, wie ein flüchtiger Augenblick, den du aus den hintersten Winkeln deiner Erinnerung kramst und der immer unscharf bleibt. Hier, in diesen paar Momenten, in denen sich der Tag zu einem Neubeginn entscheidet, liegt vielleicht das, was die Philosophen als Seele bezeichnen . Die Luft hat sich in der Nacht erholt und ist klar, der Himmel über mir glüht so rot wie der aufgeschlitzte Bauch einer trächtigen Sau.
Ich atme tief durch, zünde einen kleinen Joint an und drehe die Lautstärke am iPod voll auf. Menschen kommen mir um diese Uhrzeit wie aufrecht gehende Rinderhälften vor: die fette Alte mit den Warzen auf der Nase, die vor dem türkischen Gemüseladen fegt, der Opa, der wie jeden Morgen auf der vergammelten Bank vor der Kirche sitzt und mit eingesunkenen Schultern Zeitung liest.
Es zieht wie ein Stummfilm, zu dem ich den Soundtrack hinzufüge, an mir vorbei: Das großartige Leben. Nicht, dass das falsch verstanden wird. Ich bin nicht der Meinung, das Leben sei schlecht und nur dazu da, weggehasst zu werden.
Das Problem ist, die Menschheit ist zu intelligent geworden. Intelligenz ist immer von Nachteil. Intelligenz
Weitere Kostenlose Bücher