Antonias Wille
Deshalb haben sie ihr Engagement in Bad Säckingen auch nicht verlängert. Ihr stehe der Sinn jedoch nicht nach wochenlanger Krankenpflege, sondern eher nach ein paar Tagen Erholung auf dem Moritzhof. »Nun, die sollst du haben«, sagte ich zu ihr.
Jetzt ist es schon nach Mitternacht, und ich bin so müde, dass mir die Augen fast zufallen. Den ganzen Nachmittag und den ganzen Abend lang haben wir geredet. Aber wenn ich mich jetzt hinlege, kann ich sowieso nicht schlafen. Also werde ich lieber aufschreiben, was mir den Schlaf rauben würde. Claudines Anliegen nämlich.
Sie habe eine groÃe Bitte, begann sie. Eine gute Bekannte, »nennen wir sie einmal die Gräfin Z.«, brauche dringend für zwei, drei Wochen einen sicheren Unterschlupf. Ich erwiderte, dass es diese Art Gäste seit Karls Tod auf dem Moritzhof nicht mehr gäbe. Lachend winkte Claudine ab. Bei Ludmilla Gräfin von Z. sehe die Sache ein wenig anders aus. Das sei ein armes Ding. Und dann klärte sie mich auf â in einer Ausführlichkeit, die mir nicht sonderlich recht war.
Ludmilla hatte im zarten Alter von sechzehn Jahren auf Drängen ihrer ebenfalls adligen Familie den wesentlich älteren Grafen Z. geheiratet. Seine Familie sei zwar arm an Land, besitze jedoch sehr rentable EisengieÃereien in ganz Süddeutschland, sagte Claudine.
Ich musste an dieser Stelle sofort an Karl denken, der die Eisenwerke stets verflucht hatte. »GefräÃige Monster, deren Ãfen ganze Wälder als Brennstoff verschlingen«, hatte er sie genannt.
Die Ehe war nicht gut. Der Graf stellte sich als schwermütiger Mann heraus, der in regelmäÃigen Abständen versuchte, sich das Leben zu nehmen. »Wenn es ihm nur endlich einmal gelänge!«, sagte Claudine, und ich sah Simone vor mir, die sich bei solchen Worten heftig und mindestens drei Mal bekreuzigen würde. Graf Z. erträgt kein Licht, er bekommt beim geringsten Sonneneinfall Herzrasen, und daher sind sämtliche Räume seines Herrenhauses ständig mit braunen Samtvorhängen verdunkelt.
Nachdem der erste Schock überwunden war, versuchte die junge Frau in den ersten Jahren noch, das Beste aus der Zwangsheirat zu machen. Sie schmückte das Haus, lud Gäste ein, stellte den besten Koch weit und breit ein. Doch all ihre Bemühungen, ihrem Mann die Schwermut auszutreiben, schlugen fehl. Vom Körpergeruch seiner Gäste bekam der Graf Atemnot, die fremdartigen Speisen des Koches schmeckten ihm nicht, und für die farbenfrohen Stoffe auf den Polstermöbeln und an den Wänden hatte er keinen Sinn.
Die Ehe blieb kinderlos â der Graf sei körperlichen Freuden nicht zugeneigt, behauptete Claudine. Nur ein Mal pro Monat muss Ludmilla ihn beglücken, »weil sein Nervenarzt ihm rät, die Säfte flieÃen zu lassen«.
Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. Wie kommt eineFrau mit solch einem Leben zurecht?, wollte ich wissen. Wer sagt denn, dass sie damit zurechtkommt?, entgegnete Claudine. Einen Selbstmordversuch habe Ludmilla auch schon hinter sich. Aber inzwischen bemühe sie sich, so weit wie möglich ihre eigenen Wege zu gehen. Eine Frau im besten Alter, adelig, freundlich, witzig, dazu äuÃerst ansehnlich und wohlhabend â auch ohne den Gatten an ihrer Seite habe sich Ludmilla ihren Platz in der höheren Gesellschaft erobert. Der Graf, der trotz â oder gerade wegen â seiner kränklichen Ich-Bezogenheit ein überaus eifersüchtiges Wesen besitzt, sieht ihre Alleingänge jedoch nicht sonderlich gern: Ob zum Nachmittagskaffee mit anderen Damen, zum Konzert im Kursaal von Baden-Baden oder in einem anderen Kurort, zur Sommerfrische in den Alpen â bei jedem Ausgang stellt er Ludmilla zwei Begleiterinnen zur Seite, »damit sie sich nicht so allein fühlt«. In Wirklichkeit handelt es sich dabei um zwei Drachen, stets in tristes Schwarz gekleidet, die gut von ihm dafür bezahlt werden, ein Auge auf die junge Gräfin zu haben.
»Es geht ihm nur um Kontrolle, nicht um Ludmilla selbst«, sagte Claudine.
Kurz vor Weihnachten war trotzdem etwas geschehen. Der Graf hatte seine Frau mit nach Lörrach genommen, und während er einen Geschäftstermin wahrnahm, schlich sich Ludmilla aus dem Hotel und spazierte durch die festlich geschmückte Stadt. Endlich einmal frei von allen Zwängen, war sie ein paar StraÃen weiter in ein Café
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