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Antonias Wille

Antonias Wille

Titel: Antonias Wille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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liebevoll, von schmalen Lippen. Rosanna wollte sich der Umarmung entziehen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Wollte ihre Augen öffnen, aber es gelang ihr nicht. Sie war gefangen in schwarzer Einsamkeit.
    Â»Rosanna, mein lieber, lieber Engel! Hörst du mich? Du bist völlig erschöpft, das ist doch kein Wunder nach dem, was du heute getan hast. Aber jetzt wird alles gut.« Simone schluchzte. »Ich bin doch für dich da …«
    Arme, zu stark, wiegten sie hin und her, lullten sie ein … die Berührung … nicht mehr so unangenehm … warm, weich … die Stimme so sanft … Zögerlich hoben sich Rosannas Arme, ihr Leib drängte sich dem Trost entgegen, der sanften Stimme. Simones Mund neigte sich zu ihrem hinab. Lippen, zu feucht, küssten sie. Einmal, zweimal.
    Â»Du bist nicht allein. Ich passe auf dich auf, für immer, das verspreche ich dir …«
    Die Lippen liebkosten nun ihre Handflächen.
    Nicht allein  … Tränen sammelten sich in ihren Mundwinkeln, wurden weggeküsst, fielen in ihren Schoß, spitze Kniescheiben drückten gegen ihren Leib, während eine Hand ihr das nasse Haar aus der Stirn strich. Nicht allein  …
    Schwindel überfiel Rosanna, der grausame Schmerz in ihrem Bauch, der sie ständig an ihren Verlust erinnerte, begann zuflattern wie ein eingesperrter Vogel in einem zu engen Käfig, wurde leichter.
    Stumm ließ ihr Körper die Zärtlichkeiten zu, beantwortete sie zaghaft. Ihre Hand glitt über hervorstehende Hüftknochen. Über Stoff, so nass und kalt. Darunter Haut, flaumig, Gänsehaut. Mit geschlossenen Augen hob sie ihren Kopf, empfing flatternde Küsse.
    Nicht allein …
    Eine Hand auf ihrer Brust. Seltsames Schaudern. Ein Stöhnen, so süß, so fremd … Fremd? Nein … nicht nachdenken, leben nur, fühlen, es geht noch …

31. Dezember 1901
    Was für ein unseliges Jahr geht nun zu Ende! Mir graut davor zurückzublicken. Aber noch mehr graut mir davor, nach vorn zu schauen. Was soll das neue Jahr mir schon bringen? Mein Kind ist tot, und niemand und nichts auf der Welt wird daran etwas ändern.
    Ich bin müde. Halb tot geschuftet hab ich mich in den letzten Monaten. Wenn man müde ist, fällt das Denken schwer. Und wenn man nicht mehr richtig denken kann, fällt auch das Fühlen schwer – was für ein Segen!
    Wenn ich diese Zeilen geschrieben habe, werde ich zu Bett gehen. Welchen Sinn macht es, hier mutterseelenallein zu sitzen und auf Schlag zwölf zu warten? Wenn Simone hätte kommen können, wäre ich vielleicht wach geblieben. Vielleicht …
    Der Engländer hat mich eingeladen, den Jahreswechsel im »Goldenen Pendel« zu verbringen. Aber danach stand mir nicht der Sinn. Von Claudine habe ich außer einer Karte zu Weihnachten kein Lebenszeichen bekommen – sie und Alexandre haben ein längeres Engagement in Frankreich, schrieb sie. Ach Claudine, manchmal könnte ich deine Fröhlichkeit so gut gebrauchen!
    Kein Mensch interessiert sich für mich. Hätte sich Kathi nicht einmal nach mir erkundigen können? Nein, lieber wiegt sie ihr Neugeborenes in den Armen. Hätte der Pfarrer nicht einmal nach mir schauen können? Nein, lieber predigt er seinen Schäflein in der Kirche von Anstand und Moral. Und der elende Arzt?
    Nicht, dass ich auch nur einen von ihnen brauche – von mir aus können sie sich allesamt zum Teufel scheren.
    Simone ist der einzige Mensch, der mir geblieben ist. Wenn sie mich im Arm hält, spüre ich, dass ich noch lebe, ob ich will oder nicht …
    Immer wieder beteuert sie mir, dass sie in der Kirche für mein Seelenheil betet. Nun ja, wenn’s ihr etwas bringt …
    Manchmal nimmt ihre Frömmigkeit allerdings seltsame Züge an: Da hat sie doch tatsächlich geglaubt, in der Kirche würde sie ihre Pickel und eitrigen Geschwüre loswerden! Als sie mir erzählte, wie sie den Rat eines alten Mütterchens befolgt hat, musste ich sogar lachen. Sie solle in die Kirche gehen, hatte die alte Frau ihr gesagt, und just in dem Moment, wenn sie zwei Menschen miteinander sprechen sehe, folgenden Satz dreimal flüstern: »Was ich sehe, das ist eine Sünd’, und was ich greife, das verschwind’.« Natürlich hatte es einige Sonntage gedauert, bis Simone ihren »Hexenspruch« anbringen

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