Antonias Wille
1902
Ich weià bald nicht mehr, wo mir der Kopf steht! Seit ich aus Titisee zurück bin, habe ich keinen Moment mehr zum Durchschnaufen gehabt. An allen Ecken und Enden soll ich gleichzeitig sein.
Endlich hat sich Claudine mal wieder blicken lassen. Sie ist heute angekommen und findet meine Idee mit dem Hotel groÃartig. Wenn es nach ihr ginge, würde ich mein Glück noch diesen Sommer versuchen, statt bis zum nächsten Jahr zu warten. Aber der Herr aus dem Verlag, der die Baedeker-Reiseführer herausbringt, schrieb mir, meine Anzeige würde erst in der Ausgabe vom Januar 1903 erscheinen. Daher ist es wohl klüger, mit der Eröffnung des Hotels bis zum nächsten Frühjahr zu warten. Nicht, dass ich bis dahin nur Däumchen drehen kann. Es gibt ja so viel zu tun! Claudine meinte, sechs Gästezimmer würden auf Dauer nicht reichen und ich solle darüber nachdenken, den ungenutzten Raum unterm Dach umzubauen. Vielleicht hat sie Recht, aber damit will ich mich jetzt noch nicht beschäftigen. Das ist schlieÃlich alles mit hohen Kosten verbunden. Im Augenblick ist mir wichtiger, dass die Bibliothek umgestaltet wird, dass ich noch ein paar Tische für das Esszimmer auftreibe, dass ich irgendwie aus der guten Stube einen eleganten Salon zaubere, vielleicht mit genügend Platz zum Tanzen, und und und ⦠Auch drauÃen gibt es eine Menge Arbeit: Der Weg hoch zum »Kuckucksnest« muss befestigt werden â gröÃere Kutschen könnten sonst seitlich mit den Rädern abrutschen. Claudine sagt, ich solle auch damit rechnen, dass demnächst Gäste mit Automobilen anreisen werden. Na ja â¦
Den Gemüsegarten will ich aufs Doppelte vergröÃern â schlieÃlich möchte ich mir nicht jede Kartoffel von Stanislaus liefern lassen müssen, der verdient eh schon genug an mir.
Dann muss der alte Schuppen, in dem nur Gerümpel steht, zu einem Pferdestall umgebaut werden. Da es hier oben keinenMietstall gibt, wo die Gäste ihre Kutschpferde unterstellen können, muss ich für deren Unterkunft sorgen. Daran hatte ich bis zu meiner Reise nach Titisee gar nicht gedacht â¦
Es wäre auch schön, drauÃen, gleich neben der Küche, ein paar Tische aufzustellen, damit die Gäste ihren Kaffee und Kuchen bei schönem Wetter nachmittags unter freiem Himmel genieÃen können. In Titisee ist so etwas gang und gäbe.
Ach, ich könnte meine Liste ewig fortführen! Aber als ich mit Simone ausgerechnet habe, was allein diese ersten Umbauten kosten werden, da hat es mich ganz schön gegraust. Fast das ganze Geld, das Karl mir vermacht hat, wird dafür draufgehen. Simone sagt, ich solle im ersten Jahr nur die wichtigsten Renovierungen machen und dann Jahr für Jahr ein weiteres Projekt in Angriff nehmen. Aber was ist wichtig und was nicht? Das kann sie mir auch nicht sagen, da muss ich mich allein auf mein Gefühl verlassen.
Trotzdem bin ich froh, dass sie nicht mehr ständig gegen das Hotel wettert â ihr schwarzseherisches Gejammer hat mich ganz schön geärgert. Es war gut, dass sie mit mir nach Titisee gereist ist â die Hotels dort und die vielen Gäste, die so bereitwillig ihr Portemonnaie öffnen, haben sie anscheinend sehr beeindruckt. Inzwischen spricht sie schon von »unserem« Hotel.
Manchmal frage ich mich allerdings doch, ob ich mich nicht übernommen habe. Nicht, dass ich an meiner Idee selbst zweifle. Aber ich kann sie nun einmal nicht allein verwirklichen, und das ist ein Problem. Denn ich weià nicht, woher ich die Leute für all die Aufgaben nehmen soll. Nun rächt es sich, dass ich mich nie mehr um einen guten Kontakt zu den Rombachern bemüht habe. Jetzt muss ich zu Kreuze kriechen und den einen und anderen bitten, für mich zu arbeiten. Aber eine groÃe Hoffnung habe ich: Stanislaus wird seine ältere Tochter fragen, ob sie im nächsten Jahr bei mir anfangen will. Das wäre ein wahrer Glücksgriff, denn sie hat das Ganze schlieÃlich gelernt.
Heute war der Zimmermann da, der die Haustür erweitern soll. Schon drei Mal hatte er mir versprochen zu kommen, heute erst hat er es wahr gemacht. Aber statt sich gleich an die Arbeit zumachen, wollte er von mir wissen, warum ich die Tür überhaupt verbreitern möchte. Weil hier oben jedem Tür und Tor offen stehen sollen, sagte ich. Weil niemand das Gefühl haben darf, durch ein
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