Antonias Wille

soll einmal eine Wirtschaft gewesen sein?«, fragte ich fassungslos und konnte kaum mein eigenes Wort verstehen. Doch der Engländer klärte mich auf, dass die Margstätters einmal eine reiche Familie gewesen waren. Sie besaßen eine Mühle, in der das Korn der ganzen Gegend gemahlen wurde, und ein Wirtshaus, in dem alle, die auf dem Weg in die Schweiz waren, Rast machten. Nun, das Wirtshaus gibt es schon lange nicht mehr, die Mühle auch nicht, aber das Schankrecht hatte das alte Haus immer noch inne.
    Viel Hoffnung, dass es mir gelingen würde, es der alten Frau abzuschwatzen, machte mir der Engländer nicht. »Vor dir haben schon einige ihr Glück versucht, aber bisher hat sich die Luise nicht erweichen lassen, sich von ihrem Schankrecht zu trennen. Am Ende nimmt sie’s noch mit ins Grab, die sture Alte!« Dann erklärte er mir noch, dass ihr vier Söhne gestorben seien, sie daher keine Nachfahren habe, welche die einstige Bergwirtschaft hätten wieder aufnehmen können. Vier Söhne zu verlieren – wie kann ein Mensch so etwas überleben?, fragte ich mich, und der Gedanke an Bubi drohte plötzlich mein Herz zu zerreißen. »Jetzt heul doch nicht – gefressen hat sie meines Wissens noch keinen!«, sagte der Engländer, der meine Tränen sah, bevor ich sie wegwischen konnte. Mein Traum von einem Hotel, mein Besuch hier – all das kam mir auf einmal so sinnlos vor, dass ich am liebsten auf der Stelle umgekehrt wäre. Aber damit hätte ich mich beim Engländer vollends lächerlich gemacht. Also schnäuzte ich mich einmal kräftig, klopfte an und betrat die Hütte. Was hatte ich noch zu verlieren?
    Dieser Geruch, der mich empfing … Ich weiß zwar nicht, wie es in einem Grab riecht, aber so stelle ich es mir vor: modrig, nach Fäulnis und Zerfall. Und mittendrin hockte diese einsame alte Frau, die kaum mehr aus den Augen schauen konnte, die meine Hände fasste und dann mein Gesicht abtastete, »damit ich dich besser sehen kann«. Diese eisigen Finger! Als ob der Tod einen streift – so kam es mir vor.
    Der Engländer habe mich geschickt, sagte ich. Und dass ich auf dem Rombacher Amt gewesen sei. Nachdem ich meine Gastgeschenke – eine Flasche Kirschwasser und einen ganzen Schinken – auf den Tisch gelegt hatte, rückte ich mit meinem Anliegen heraus.
    Â»Soso, ein Gasthaus willst du eröffnen. Und wieso, glaubst du, soll ich ausgerechnet dir mein Schankrecht verkaufen?«
    Â»Weil ich es brauche«, erwiderte ich schlicht. Ohne eine Schankgenehmigung könne ich meine Zukunftspläne für immer begraben, erklärte ich ihr dann.
    Â»Soso«, wiederholte sie. Ihre Stimme war rostig wie eine schlecht geölte Tür. »Wenn du so großartige Pläne hast, warum fühle ich dann trotzdem Tränen auf deinem Gesicht?«
    Wie sie mich dabei mit ihren trüben Augen fixierte! Ich kam mirvor wie beim Jüngsten Gericht und senkte meinen Blick, als hätte ich etwas zu verbergen. Als ich mich anschließend verstohlen in der Stube umschaute, musste ich an die vier Buben denken, die einstmals in diesem Haus gelebt hatten. Urplötzlich hörte ich ihr Lachen, ihre Streitereien, ihr Weinen, wenn eine Rauferei ausgeartet war und sich einer dabei wehgetan hatte.
    Wenn Kinder ihre Eltern verlieren, ist das der Lauf der Dinge. Aber wenn es umgekehrt geschieht, dann ist die Ordnung der Welt auf den Kopf gestellt. Und auf dem Kopf kann man nun einmal nicht leben – das wusste ich selbst am allerbesten.
    Bei diesem Gedanken fiel mir dummer Kuh nichts anderes ein, als erneut in Tränen auszubrechen. Auf einmal spürte ich Arme um mich. Arme, die mich hielten und die nicht kalt waren wie der Tod, sondern tröstend und warm. Und eine Stimme im Ohr, die sagte: »Erzähl mir, was dir so schwer aufs Herz drückt.«
    So unglaublich es klingt: Ich habe dann wirklich den halben Tag damit verbracht, Luise Margstätter mein Leid zu klagen. Warum hörst du nicht endlich auf, beschwor ich mich zwischendurch immer wieder, die alte Frau hat doch weiß Gott selbst genug Elend hinter sich. Da muss sie sich doch nicht auch noch deines anhören. Aber sobald ich einmal angefangen hatte, konnte ich einfach nicht mehr aufhören.
    Irgendwann, es muss Stunden später gewesen sein, ich hatte inzwischen völlig das Zeitgefühl verloren, klopfte es an der Tür. Der