Antonias Wille
Engländer! Den hatte ich ganz vergessen, so weit entfernt befand ich mich, in einem anderen Raum, einer anderen Zeit.
Ob damit zu rechnen sei, dass ich heute noch einmal herauskommen würde, schnauzte er mich an. Dass er noch etwas anderes zu tun habe, als für mich den Bergführer zu spielen. Ich war zum Glück gerade mit dem Erzählen fertig und hatte mich auch wieder einigermaÃen gefangen. Ich bat den Engländer um Entschuldigung, dass ich ihn so lange hatte warten lassen, und stand auf. In diesem Moment war mir alles gleichgültig. Keine Wirtschaftsgerechtigkeit, kein Hotel, was machte das schon aus? Dafür war mir so leicht ums Herz wie schon lange nicht mehr.
Doch ich hatte die Rechnung ohne die alte Luise gemacht. Sie zog den Engländer am Ãrmel ins Haus und sagte: »Auf deine Eile pfeif ich, lass dir das gesagt sein. Du hast das Kind schlieÃlich zu mir gebracht. Nun wird es ja wohl noch erlaubt sein, dass wir gemeinsam auf die zukünftige Besitzerin meiner Schankrechte anstoÃen, oder?«
Bis heute weià ich nicht, warum sich Luise dazu entschloss, den Handel mit mir zu machen. Vielleicht lag es an meiner Offenheit. Vielleicht hatte sie aber auch einfach nur Mitleid mit mir â¦
Am ersten Mai des Jahres 1903 öffnete das »Hotel Kuckucksnest« seine Türen, nachdem Rosanna das Schankrecht der alten Margstätter-Mühle offiziell auf den Moritzhof hatte übertragen lassen.
Rosannas Vision â von den Rombachern belächelt, von Simone mehr als skeptisch beäugt â wurde Wirklichkeit: Dank einer Eintragung in Baedekers Schwarzwaldführer und dank Claudines Mundpropaganda tummelten sich im »Kuckucksnest« vom ersten Tag an die unterschiedlichsten Gäste wie bunte Geranien im Blumenkasten auf einer Fensterbank.
Und mit den Gästen zog das Glück ins »Kuckucksnest« ein. Die früheren Schicksalsschläge waren zwar nicht vergessen, aber Trauer und Leid wanderten als düstere Gestalten der Vergangenheit immer weiter davon. Es war wie nach einem endlos langen Winter: Die eisige Schneedecke, unter der Rosannas Leben so lange Zeit brachgelegen hatte, war endlich geschmolzen, und darunter lugte ein SträuÃchen Zuversicht hervor, keimte ein Hauch von Unbeschwertheit, blitzte ein verhaltenes Strahlen auf.
Die sechs Fremdenzimmer mit den insgesamt zweiundzwanzig Betten reichten bald nicht mehr aus. Immer wieder musste Rosanna schriftlichen Anfragen von Gästen Absagen erteilen oder diese auf das nächste Jahr vertrösten. Schon im Winter des Jahres 1904 begann Rosanna mit dem Ausbau desDachgeschosses. Dank des Rombacher Zimmermanns, der gleich noch einen Schreiner und einige Gehilfen mitbrachte, entstanden so in nur wenigen Monaten weitere fünf Gästezimmer sowie ein Badezimmer. Während unter dem Dach gehämmert und geschraubt wurde, feierten die Gäste im Speisesaal mit Rosanna ein rauschendes Silvesterfest, das mit einem Fackellauf durch den verschneiten Wald begann und mit Musik von Claudine und Alexandre gekrönt wurde.
Beflügelt von ihrem Erfolg als Hotelwirtin, wuchs in Rosanna ein Selbstbewusstsein, das ihr manchmal schon ein bisschen unheimlich war.
Die Breuers spuckten natürlich Gift und Galle. Das »Kuckucksnest« war nicht nur zur Konkurrenz geworden, sondern zur ernsthaften Bedrohung für den »Fuchsen«, der weder im Zimmerangebot noch bei den anderen Attraktionen mit dem Hotel auf dem Berg mithalten konnte. Als Anfang des Jahres 1905 plötzlich Zacharias vor der Tür stand und Rosanna zähneknirschend eine Zusammenarbeit »anbot«, lachte sie ihn schlichtweg aus.
6. Mai 1908
Ach Karl, heute hab ich einmal ganz besonders heftig an dich denken müssen. Deshalb schreibe ich diese Zeilen nun für dich. Lange Zeit habe ich das nicht mehr getan. Aber Karl, du brauchst keine Angst zu haben, dass mir alles zu viel wird, ganz im Gegenteil: Von mir aus kannâs gar nicht genug Arbeit geben! Arbeit macht das Leben süàâ so sagt man doch.
Heute schickte ich eine Gruppe von Gästen aus Karlsruhe zusammen mit meinem Jagdpächter Gmeiner auf eine Vogelwanderung. WeiÃt du, nicht jeder hat Interesse an der Jagd, doch die meisten wollen den Wald kennen lernen. Deshalb habe ich auch den Schwarzwaldverein, der Wanderkarten herausgibt, angeschrieben mit der Bitte, eine solche Karte auch für das Rombacher Amt anzufertigen. Leider kommt es
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