Antonias Wille
hält ein paar Fäden in der Hand: kräftige Fäden, durch nichts zu zerreiÃen, dünne, die sich aneinander scheuern, bis sie sich auflösen, helle und dunkle Fäden, bunte und farblose, die für kein Muster taugen. Aus all diesen Fäden werden unsere Leben gewebt, und manchmal sind die Muster so undurchschaubar, dass ein Einzelner sie gar nicht verstehen kann.
War es Fügung, dass Helmut ausgerechnet ins »Kuckucksnest« gekommen ist? Oder war es Zufall? Er hätte überallhin reisen können, und dann hätten wir uns nie kennen gelernt! Wer hat dabei die Fäden in der Hand gehalten? War es womöglich doch der liebe Gott, den Simone so gern anruft?
Das werden wir wohl nie erfahren. Und vielleicht ist es auch nicht wichtig. Entscheidend ist nur, dass wir selbst auch etwas dafür tun, den Zauberteppich des Lebens zu bewahren.
Vielleicht hätte ich doch besser mit meinen Gästen noch ein, zwei Gläser Wein getrunken, statt mich hier in philosophischer Dichtkunst zu versuchen. Aber das kommt nur daher, weil ich so unglaublich glücklich bin!
Bis jetzt habe ich es geschafft, meine Neuigkeit für mich zu behalten, aber wenn ich nun nicht darüber schreibe, platze ich.
Helmut hat mir heute erzählt, dass er seine Wohnung in Furtwangen gekündigt hat.
Wenn es mir recht ist, möchte er fortan hier oben leben und arbeiten. Wenn es mir recht ist â ha! Ich hätte vor Freude fast losgeheult. Er bleibt bei mir! Wir werden zusammenleben! Natürlich wird er ab und an verreisen müssen, um neue Auftragsarbeiten zu verhandeln, fertige Stücke abzuliefern oder Farben und Pinsel zu kaufen. Aber das macht nichts. Vielleicht kann ich ihn ja manchmal sogar begleiten. Und wenn nicht, dann weià ich, dass er zurückkommen wird. Und ich werde mich jedes Mal unbändig auf ihn freuen.
Ich bin gespannt, wie Simone auf die Neuigkeit reagieren wird. Tief in ihrem Innern ist sie nach wie vor ein wenig eifersüchtig, das weià ich wohl! Dabei bemüht sich Helmut so sehr, mit ihrer manchmal etwas barschen Art zurechtzukommen. Erst gestern sagte er: »Simone ist wie eine Kastanie: auÃen so stachelig, dass man es kaum wagt, sie anzufassen. Aber unter den Stacheln ist bestimmt ein glänzender Kern verborgen, sonst wäre sie dir in all den Jahren nicht eine so treue Freundin gewesen.« Da habe ich ihn ganz fest gedrückt.
Manchmal, wenn die beiden sich unterhalten, muss ich in mich hineinlächeln. Oberflächlich gesehen handelt es sich immer um ein scheinbar belangloses Gespräch, aber ich bin in der Lage, die nicht ausgesprochenen Gedanken, die stillen Fragen zwischen den Zeilen zu hören. »Akzeptierst du mich als neuen Mann an Rosannas Seite?«, scheint Helmut Simone dann zu fragen. Und sie fragt zurück: »Nimmst du mir Rosanna auch wirklich nicht weg?« Sie trauen sich gegenseitig noch nicht so recht über den Weg â Helmut, die Liebe meines Lebens, und meine beste Freundin. Dabei sage ich Simone immer wieder, dass niemand zwischen uns treten wird. Dass unsere Freundschaft einmalig ist. Aber meine Liebe zu Helmut ist eben auch einmalig, das muss sie akzeptieren â¦
Müde strich sich Simone ein paar widerspenstige Strähnen aus der Stirn. Sie schlug die Zeitschrift, in der sie geblättert hatte, zu und warf einen Blick auf die Wanduhr. Fast Mitternacht, und noch immer machte die Hand voll Gäste in der Bibliothek keine Anstalten, in ihr Zimmer zu gehen. In regelmäÃigen Abständen hörte man Karten auf den Tisch knallen, gefolgt von Gelächter oder einem herzhaften Fluch.
Als Simone aufstand und zur Anrichte ging, um sich ein Glas Wasser einzuschenken, spürte sie ihre Knie. Das Kreuz tat ihr weh, und die Muskeln in ihrem Nacken waren so verspannt, als hätte sie jemand verknotet. Jetzt ein warmes Bad ⦠Stattdessen trank sie ein paar Schlucke abgestandenes Wasser. Dann setzte sie sich wieder und wartete. Aus der Bibliothek erklang raues Lachen. Sie seufzte. Das konnte noch dauern â¦
Früher hatten Rosanna und sie gemeinsam das Hotel »zu Bett gebracht«. Sie hatten gewartet, bis sich der letzte Gast endlich aus seinem Sessel erhoben hatte und die Treppe hinauf in sein Zimmer gewankt war. Dann waren sie durch alle Räume gegangen, hatten kontrolliert, ob die Kerzen gelöscht waren, hatten die Asche im offenen Kamin in der Empfangshalle zusammengescharrt und alle
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