Antonias Wille
Kamera zu vergessen. Selbst ihre Hässlichkeit verlor sich auf diesen Bildern ein wenig, gerade so, als würde Rosannas Schönheit auf sie übergehen.
Rosanna und Simone und eine dritte Frau. Rosanna in der Mitte, Simone links von ihr, mürrisch dreinschauend, die andere Frau auf der rechten Seite, eine Schönheit mit offenen, dunklen Haaren. Offene Haare zur damaligen Zeit? Eine Künstlerin vielleicht.
Rosanna, die einen Kuchen aufschnitt, um sie herum Kinder, die ihr Teller entgegenhielten.
Männer, die in der Bibliothek saÃen und Zigarren rauchten. Rosanna daneben, ein Tablett mit einer Karaffe und Gläsern balancierend.
Einmal zwei Frauen, die auf der Bank vor dem Hotel saÃen und ihre FüÃe in einer Blechwanne badeten. Rosanna, die lachend Wasser nachgoss. Jung und unbeschwert.
So viele Bilder, so viele Eindrücke. Und immer wieder Rosanna, die schöne Wirtin, die alles ringsum zum Strahlen brachte.Hatte nicht Antonia sogar eine entsprechende Bemerkung gemacht?
»Als ob nach Rosannas Tod auch das Glück und die Fröhlichkeit abgereist und nie mehr zurückgekehrt wären â¦Â«
Ganz hinten im Album, zwischen der letzten Seite und dem rückwärtigen Einband, entdeckte Julie einen Stapel Briefe: von Gästen, die ihrer Wirtin für die schöne Zeit im Allgemeinen oder ein Erlebnis im Besonderen danken wollten. Ein Graf hatte geschrieben. Eine Doktorsgattin aus Braunschweig, auch der Intendant eines Theaters in München. Sie überflog ein paar dieser Briefe, legte den Rest dann aber ungelesen zurück. Das schien nicht so wichtig zu sein.
DrauÃen war es schon dunkel, als Julie endlich das letzte Album sinken lieÃ. Ihre Arme schmerzten von der schweren Last, und ihre Augen taten weh. Sie legte beide Handflächen auf die geschlossenen Lider. Ihre Hände hatten den Geruch des alten Papiers angenommen. Julie verzog die Nase, um dem muffigen Geruch zu entgehen.
Als sie die Hände wieder von den Augen nahm, sah sie plötzlich Sternchen. Sie blinzelte ein paarmal, doch ihr Blick blieb verschwommen, so als weigerten sich ihre Augen, wieder ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Das Zimmer mit seinem furnierten Schrank, die Blümchen auf der Tagesdecke verschwammen wie Tinte auf nassem Papier.
Ein seltsames Gefühl machte sich in Julies Bauchgegend breit.
Irgendetwas war geschehen.
Die Tür hatte sich einen Spaltbreit geöffnet.
Als ihr Magen zu knurren begann, riss sich Julie endlich von den Fotoalben los und ging hinunter ins Lokal. Obwohl das Essen vorzüglich war, ging ihr bald nicht nur der allzu beflissene Wirt auf die Nerven, sondern auch die lauten Männer amStammtisch. Der Geräuschpegel, der aufdringliche Geruch nach Sauerkraut â Julie wollte schlieÃlich nur noch weg. Zurück zu Rosanna und den Fotografien. Um den Teller schneller leer zu bekommen, piekste Julie immer zwei Kartoffelstücke auf einmal auf.
In ihrem Zimmer öffnete sie die beiden kleinen Fenster. Am frühen Abend hatte es geregnet, und in der Luft hing der Geruch nach überreifen Ãpfeln und Pflaumen.
Julie stellte die Flasche Mineralwasser, die sie aus der Wirtsstube mitgenommen hatte, auf dem Nachttisch ab und machte es sich erneut mit den Fotoalben bequem. Welche Geschichte erzählten diese Frauengesichter? Wie Simone die Freundin anschaute â¦
»Beste Freundinnen«, hatte Antonia gesagt.
Wenn sie sich allerdings vorstellte, Theo würde sie so angucken ⦠Ein leichter Schauer rann Julie über den Rücken.
DrauÃen war das Aufheulen eines Motors zu hören. Noch einmal. Und noch einmal. Die nächtliche Herbstluft vermischte sich mit Auspuffgasen. Julie zog die Nase kraus, angelte nach dem Mineralwasser und trank einige kleine Schlucke.
War es womöglich so, dass sie fälschlicherweise irgendwelche Geheimnisse hinter der Geschichte der beiden Frauen vermutete? Konnte es sein, dass â¦
Unten im Wirtshaus stand nun die Tür nicht mehr still â die Männer vom Stammtisch schienen sich zu verabschieden. Du meine Güte! Hier war es nachts ja lauter als mitten in der GroÃstadt! Genervt sprang Julie vom Bett und schloss die Fenster. Heute kam sie nicht mehr weiter. Es war ein langer Tag gewesen. Sie klappte das Album zu und ging ins Bad, um sich für die Nacht fertig zu machen.
Ihr Kopf hatte kaum das Kissen berührt, da war sie auch schon eingeschlafen.
Der Waldweg
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