Antonias Wille
dem Abendessen, das Julie in dieser Umgebung äuÃerst romantisch fand, schenkte sie sich einen Plastikbecher Rotwein ein. Dann entzündete sie alle vier Petroleumlampen und setzte sich mit dem Wein und einer Tafel Schokolade an den Schreibtisch, vor sich Rosannas Tagebücher.
Julie konnte es inzwischen kaum noch erwarten, endlich mehr über die Frau zu erfahren, die sie schon auf den Fotografien so fasziniert hatte.
Als Erstes hatte sie sich vorgenommen, ein Gefühl für Rosannas Art zu schreiben zu bekommen. Erwartungsvoll nahm sie das oberste Buch vom Stapel und schlug wahllos eine Seite auf. Rosanna erzählte dort von einem Tanz in den ersten Mai. Blaue Bänder, die vom Maibaum wehten, ein Tanzboden, auf dem sich die Röcke wild drehten â alles war so natürlich beschrieben, dass die Bilder wie ein Film vor Julies innerem Auge zu flimmern begannen. Unwillkürlich stieà sie einen sehnsüchtigen Seufzer aus, schob sich einen Riegel Schokolade in den Mund und schlug dann probeweise eins der anderen Tagebücher auf.
Nach einer guten Stunde war ihr erstes Glücksgefühl tiefer Verunsicherung gewichen. Was sie da vor sich hatte, machte einfach keinen Sinn!
Bei einem Teil der Bücher handelte es sich in der Tat um Rosannas Tagebücher: Jeder Eintrag war mit einem Datum versehen. An manchen Tagen waren es mehrere Seiten, an anderen nur eine. So weit, so gut.
Doch in anderen Büchern gab es ellenlange Passagen ohne Punkt und Komma, die von früheren Zeiten in Rosannas Leben zu handeln schienen und in der Vergangenheitsform geschrieben waren. Aber was hatte das mit einem Tagebuch zu tun? In Julies Augen handelte es sich hierbei eher um eine Art Autobiografie.
Auch die Schreibweise war längst nicht so unkompliziert, wie Julie anfänglich gedacht hatte. Manchmal waren die Worte voller Poesie, und Rosanna ergoss sich in blumenreichen Beschreibungen von Situationen, Begegnungen und Gefühlen. Doch dann herrschte wieder ein nüchterner Erzählton vor, ohne jegliche Emotion. Es fiel Julie schwer zu glauben, dass alle Texte aus derselben Feder geflossen waren.
Ratlos schaute Julie auf den Stapel Bücher. Das Ganze kam ihr mittlerweile vor wie ein Lied, das man bei den ersten Tönen zu erkennen glaubt, bei dem man aber durch einen unerwarteten Rhythmus eines Besseren belehrt wird.
Als am nächsten Morgen das Handy klingelte, schreckte Julie hoch, ohne zunächst zu wissen, wo sie eigentlich war. Verwirrt kramte sie in ihrer Tasche â sie hatte nicht damit gerechnet, hier oben überhaupt einen Empfang zu haben.
»Und â wie wohnt es sich in deiner schnuckeligen Pension?«, erklang Theos rauchige Stimme. »Hat dich heute Morgen schon ein Hahnenschrei geweckt?«
»Einen schönen guten Morgen wünsche ich dir auch«, erwiderte Julie müde, rappelte sich auf und ging mit bloÃen FüÃen vors Haus. Nach ein paar tiefen Zügen der klaren Morgenluft war sie wach genug, um Theo von ihrem Umzug auf den Moritzhof zu erzählen.
»Ich beneide dich! Zwitschernde Vögel und das Plätschern eines Baches, während hier unser lieber Nachbar am heiligen Sonntag seine heiÃen Eisen schmiedet!«
Ein schriller Ton gellte prompt durch die Leitung in Julies Ohr.
»Theo! Muss das sein? Ich hab gerade mal ein paar Stunden Schlaf hinter mir â¦Â«
»Ach so, du machst also die Dorfkneipen unsicher. Und ich dachte schon, du wärst zum Arbeiten dort â¦Â«
Julie tappte in die Küche und bedachte den Campingkocher mit einem skeptischen Blick. Wie warf man dieses Ding nur an? Der Tee würde bis nach dem Telefonat warten müssen.
»Ich habe gearbeitet«, erwiderte sie muffig. Während sie mit einer Hand die Verpackung des Vollkornbrots aufriss, schilderte sie ihre erste Begegnung mit Rosannas Tagebüchern.
Die halbe Nacht hatte sie damit zugebracht, sich in die Tagebücher einzulesen und das übrige Material zu sichten. Sie hatte die Zeitungsausschnitte â teilweise schon derart zerfleddert, dass sie kaum mehr lesbar waren â chronologisch den Daten der Tagebücher zugeordnet. Ganz nach unten legte sie jene Artikel, die über Rosannas frühen Tod berichteten. Dann hatte sie sich erneut die Fotoalben vorgenommen, die jedoch allesamt aus den Hoteljahren stammten. Aus der Zeit vor der Eröffnung des »Kuckucksnests«, als der Hof noch Moritzhof geheiÃen hatte,
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