Antonias Wille
schlängelte sich durch dicht stehende Bäume. Er war eng und hatte viele Windungen, sodass man nie um die nächste Ecke sehen konnte. Der Boden war übersät mit alten, braunen Tannennadeln, die das Geräusch jedes Schritts schluckten. Es machte Julie Angst, dass ihre Schritte aufgefressen wurden. Sie trat fester auf und noch fester. Wartete auf ein Geräusch, von irgendwoher. Nur ihr Atem dröhnte laut in ihren Ohren.
Da!
Eine Stimme. »Julie â¦Â«
Sie drehte sich um, hielt die Luft an, aber da war niemand.
»Julie â¦Â«
»Rosanna?« Ihre Stimme. Leise. Ein Flüstern nur.
Jemand klopfte ihr auf die Schulter, doch als sie herumfuhr, war es nur ein Ast, den sie gestreift hatte. Alles schien in ein seltsames Licht getaucht, das Julie auf unheimliche Art bekannt vorkam.
Die Fotografien! Dasselbe Licht, gelblich, blass, beinahe farblos â¦
Sie wollte weitergehen, doch ihre Beine schienen plötzlich mit dem Boden verwurzelt zu sein. Sie zog und zog, mühte sich ab, aber sie vermochte ihre FüÃe nicht mehr zu heben.
Die Bäume kamen auf sie zu. Oder wurde der Weg nur noch enger? Das konnte nicht sein, sie war doch stehen geblieben!
»Julie ⦠Julie ⦠Julie â¦Â«
Es war ein Baum links von ihr, der nach ihr rief. Sein Gesicht kam ihr seltsam bekannt vor, dennoch konnte sie es nicht einordnen.
»Julie â¦Â« Nun ein Rufen von rechts. Antonia! Es war Antonias Gesicht, das ihr schmal und traurig aus der Rinde eines Baumes entgegenstarrte. Was machte sie hier, in diesem dunklen Wald? Hatte sie sich verlaufen? Julie wollte sie ansprechen, doch kein Ton kam aus ihrer trockenen Kehle.
Und wieder ein Ruf. »Julie â¦Â« Diesmal rau, verraucht.
Theo! Sie war auch hier, Gott sei Dank! Doch als Julie ihreArme nach dem Baum mit Theos Gesicht ausstreckte, verwandelten sich dessen Züge in eine pockennarbige Maske.
Simone!
Nein, Julie wollte sie nicht treffen. Nicht hier in diesem unheimlichen Wald.
Immer mehr Rufe erschollen. Laut und schrill. Flüsternd und lockend. Wie irre fuhr Julies Kopf in die eine, dann wieder in die andere Richtung. Angst stieg in ihren gelähmten Beinen auf, umfing ihren Rumpf, umklammerte ihren Brustkorb.
Eine Einsamkeit, wie sie sie noch nie empfunden hatte, nahm von ihr Besitz. Sie war allein. Alle Rufe waren bloÃe Einbildung, hallten nur in ihrem Kopf wider. Hier war niemand.
Sie war allein.
Sie spürte, wie Tränen ihre Wangen hinabliefen, heià und unkontrollierbar.
Lachen ertönte, hüllte sie ein wie eine kratzige Decke. Kein fröhliches Lachen, sondern spottend. Hysterisches Gackern. Kreischen, das dem Weinen ähnelte.
Der Kloà in Julies Hals wurde dicker, das Schlucken tat weh.
Warum lacht ihr mich aus?, wollte sie rufen, doch ein Gurgeln in ihrer Kehle erstickte die Frage.
Dieses Geräusch klang so schrecklich, so Angst erregend, dass Julie davon wach wurde.
Benommen rappelte sie sich auf. Ihr tränenverhangener Blick fiel auf die Vinyldecke, die in einem Knäuel am FuÃende ihres Bettes lag.
Es dauerte einen Moment, bis Julie wieder wusste, wo sie war.
Kein Wald, keine Rufe, kein Lachen.
Ein Traum. Alles nur ein böser Traum. Das fremde Zimmer, das schwere Essen ⦠kein Wunder.
Alles war in Ordnung.
Oder auch nicht.
Am nächsten Morgen saà Julie schon um acht Uhr im Frühstückszimmer des »Fuchsen«. Ihre Sachen lagen fertig gepacktauf ihrem Bett, die Bananenkiste war schon im Auto verstaut. Nach zwei Brötchen mit Marmelade, einem weich gekochten Ei und einer halben Kanne Kaffee fühlte sich Julie für das Gespräch mit ihren Wirtsleuten halbwegs gerüstet. Nervös strich sie sich ein paar Haarsträhnen aus der Stirn. Theo würde sich in solch einem Moment eine Zigarette anzünden, schoss ihr durch den Kopf.
Julie atmete noch einmal tief durch, dann ging sie zu der kleinen Rezeption des Gasthofs, wo Martina Breuer an einer Rechenmaschine saÃ, einen Stapel Belege vor sich. Bestimmt der Umsatz des Stammtisches vom Vorabend, vermutete Julie.
»Entschuldigen Sie, Frau Breuer, dass ich Sie störe â¦Â« Ihr Lachen klang gekünstelt.
Die Wirtin runzelte die Stirn. Julie holte Luft.
»Um es kurz zu machen: Aus meinem Aufenthalt hier wird leider nichts. Die Recherchen verlangen eine Ãnderung meiner ursprünglichen Pläne. Darf ich Sie deshalb bitten, mir meine Rechnung
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