Antonias Wille
Hände.
»Verdammt noch mal, Mädchen! Wenn ich eins nicht leiden kann, dann ist es Selbstmitleid. Schau dich doch an: Du sitzt da und lässt alles über dich ergehen. Kein Wunder, dass die dich untenim Dorf ein dummes Weib schimpfen. Zeige Rückgrat! Setz dich aufrecht hin! Du hast keinen Grund, dich kleiner zu machen, als du bist.« Er brüllte lauter als zuvor gegenüber Franziska. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte mich geschüttelt.
Da spürte ich, wie etwas in mir zu brodeln begann.
»Sie alter Besserwisser!«, schrie ich ihn an. »Ich war zwar nie in einer Schule, aber dumm bin ich deshalb noch lange nicht! Und beleidigen müssen Sie mich auch nicht. GroÃe Reden gehalten zu bekommen hilft mir auch nichts. Wie wäre es, wenn Sie mir stattdessen das Lesen und Schreiben beibringen? Oder sind Sie vielleicht zu dumm dazu?«
Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, schlug ich vor Schreck die Hand vor den Mund. Wie konnte ich nur â¦
Zu meiner Ãberraschung begann Karl herzhaft zu lachen. Erst da wurde mir klar, dass er es genau auf solch einen Ausbruch angelegt hatte.
So kam ich ausgerechnet durch Franziskas Besuch zu meiner ersten Unterrichtsstunde. In meinem Kopf hörte ich noch ihre erboste Stimme â und Karl verlangte von mir, dass ich Buchstaben aneinander reihte! Dafür suchte Karl einen Artikel über den Ausbau der Schwarzwaldbahn aus. Es war die reinste Quälerei. Viele Worte hatte ich noch nie gehört, geschweige denn auf Papier gesehen. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen und kam mir tatsächlich dumm vor! Nach nur einem Absatz beschloss Karl, dass der Text nichts tauge, und zeigte stattdessen auf eine Anzeige, auf der ein Brauereiwagen mit zwei Pferden abgebildet war. Ausgerechnet die Brauerei Jugel hatte sie aufgegeben. Ich war mir sicher, dass Karl sie mit Absicht ausgesucht hatte. Und wenn schon, sagte ich mir und kämpfte gegen das Bild von Elsbeth Jugel in Zachariasâ Armen an.
Nach langer Zeit und vielen vergeblichen Versuchen, die Buchstaben richtig ausgesprochen aneinander zu fügen, wollte ich aufgeben. Doch Karl lieà es nicht zu und forderte mich immer wieder geduldig auf, von vorn zu beginnen. Unzählige Male erklärte er mir, welcher Buchstabe wie lautete. SchlieÃlich wurden wir fürunsere Mühe belohnt. Stotternd las ich: »Bra⦠Brauerei Jugel in Schwend empfiehlt ihr rein gebrautes, bekömmliches Bier!«
Ich schaute grimmig auf und sagte: »Wenn man von dem Bier so schiefe Zähne bekommt wie Elsbeth Jugel, kann es nicht sehr bekömmlich sein!«
»Das steht aber nicht in der Anzeige«, erwiderte Karl trocken. Daraufhin mussten wir beide lachen. »Na also, es geht doch!«, lobte er mich. Ich weià nicht, ob er damit meine kümmerlichen Leseversuche oder meine giftige Bemerkung meinte.
Später am Nachmittag bestand er darauf, dass ich eine ganze Spalte aus der Zeitung abschrieb. Zur Ãbung. Am Abend war ich so erschöpft, als hätte ich den ganzen Tag schwere Arbeit geleistet. Gleichzeitig fühlte ich mich so wach und munter wie seit langem nicht mehr. Und ich hatte keinen Moment lang an Zacharias, Franziska und das ganze Elend gedacht.
Inzwischen kann ich wohl behaupten, dass ich der deutschen Sprache mächtig bin. Zumindest reicht es zum Lesen und Tagebuchschreiben. Aber ohne Karls grenzenlose Geduld und seine Strenge in den ersten Wochen wäre ich heute noch nicht dazu in der Lage â¦
Weihnachten verging und danach auch das Neujahrsfest. Obwohl die Tage auf dem Moritzhof nach einem ganz anderen Rhythmus verliefen als die im Gasthof »Fuchsen«, fiel Rosanna die Umstellung leichter, als sie angenommen hatte. Morgens war sie stets eine Stunde früher auf den Beinen als der Hausherr, um das Feuer in der Küche zu schüren und die Morgenmahlzeit zu bereiten, die sie gemeinsam einnahmen. Danach ging jeder seiner Wege. Karl Moritz steckte das Geld, das er durchs winterliche Schwarzbrennen verdiente, in technische Neuerungen und gestaltete dadurch das Leben auf dem Hof immer angenehmer. Derzeit baute er einen riesigen Warmwasserspeicher ein, der unter viel Brodeln und Poltern für warmes Wasser im oberenBadezimmer sorgen sollte, wo es sogar eine Badewanne gab. Davor hatte er weitere Stromleitungen von der Turbine in alle möglichen Zimmer gelegt, sodass nun jeder Raum mit elektrischem Licht versorgt wurde. Für
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