Anubis 02 - Horus
gehört und will mir einen Besuch dort keineswegs entgehen lassen … und wenn ich ohnehin in diese Richtung muss …«
»Was schon einmal die erste Unverschämtheit ist.« Mrs Walsh gelang es, sich zu ereifern und dabei immer noch genauso matt und erschöpft zu klingen wie zuvor. »Wenn doch so außer Zweifel steht, dass Bast nichts mit dieser grässlichen Geschichte zu tun hat, wieso zitiert er sie dann zu sich?«
»Aber Sie haben Frederick doch gehört«, sagte Maistowe. »Es geht nur um ein paar Fragen.«
»Dann sollte er sich gefälligst hierher bequemen, statt eine unbescholtene Bürgerin wie einen Verbrecher zu sich zu zitieren!«
»Monro?«, fragte Maistowe. »Der im letzten Jahr das Attentat auf Königin Victoria vereitelt hat! Ich bitte Sie!«
»Und?«, fragte Mrs Walsh. »Ist er etwas Besseres als wir? Solange niemandem eine Schuld nachgewiesen …«
»Es ist schon gut, Mrs Walsh«, unterbrach Bast sie. »Ich wollte tatsächlich den Obelisken sehen. Da macht ein so kleiner Umweg nichts aus. Und wer weiß? Vielleicht kann ich ja tatsächlich helfen.«
»Aber doch nicht heute!«, widersprach Mrs Walsh. »Sie müssen ebenso müde sein wie wir alle. Und was ist, wenn Cindy wach wird?«
»Das wird sie nicht«, beruhigte sie Bast. »Jedenfalls nicht vor dem späten Abend. Und bis dahin bin ich längst zurück, das verspreche ich.«
Sie hatte sich zu Fuß auf den Weg gemacht, obwohl Maistowe und Mrs Walsh sie davor gewarnt hatten. Selbst für jemanden, der wie sie lange Fußmärsche gewohnt war, war es ein Weg von mehr als einer Stunde, und die Temperaturen waren im Laufe des Tages zwar ein wenig gestiegen, aber nicht so weit, wie sie es eigentlich sollten. Allerdings hatte der geringe Anstieg im Gegenzug gereicht, den Nebel von der Themse heraufziehen zu lassen.
Sie bereute ihren Entschluss schon nach wenigen Minuten. Bast war in ihrem Leben schon an Orten gewesen, die weitaus kälter und unwirtlicher waren, aber sie hatte selten eine so unangenehme Mischung aus Kälte und feuchtem Nebel erlebt, der nicht nur alle Umrisse verwischte und den Lauten ihre Tiefe und Lebendigkeit nahm, sondern auch unaufhaltsam unter ihre Kleidung kroch und sich wie ein eisiger Film auf ihre Haut legte, um ihr langsam, aber auch ebenso unerbittlich jedes bisschen Wärme zu entziehen. Sie hatte wohlweislich ihr wärmstes Kleid angezogen, bevor sie das Haus verlassen hatte, aber es nutzte nichts. Sie fror noch nicht so sehr, dass es wirklich unerträglich gewesen wäre, und sie machte sich erst recht keine Sorgen um ihre Gesundheit, aber sie begann allmählich zu begreifen, warum Spukgeschichten und unheimliche Erzählungen in diesem Land so überaus beliebt waren. Dieser Nebel hatte etwas Unheimliches. Er narrte sogar ihre scharfen Sinne, und sie vielleicht sogar ganz besonders. Sie nahm kaum irgendetwas wirklich scharf wahr, das weiter als zehn oder zwölf Schritte entfernt war, und auf eine an den Nerven zerrende Art machte der Nebel es auch fast unmöglich, die Richtung zu bestimmen, aus der die Geräusche kamen. Auf der Straße bewegten sich nur sehr wenige Menschen, und schon bei denen, die auf dem gegenüber liegenden Trottoir gingen, hätte es sich ebenso gut um Gespenster handeln können, lautlos und blass und mit Umrissen, die genau dann wieder auseinandertrieben, wenn ihr Blick sie beinahe erfasst hatte.
Dann drang ein scharfer, sonderbar klarer Schrei an ihr Ohr, ein Geräusch, das so wenig in diesen Nebel passte wie sie selbst in diese Stadt, denn es schnitt so klar und scharf wie ein Messer durch das dichter werdende Meer aus grauer Watte, das sie durchwatete: der schrille Schrei eines Vogels.
Bast warf mit einem erschrockenen Ruck den Kopf in den Nacken, sah einen schwarzen, pfeilflügeligen Schatten auf sich herabstoßen und sprang im allerletzten Moment und halb geduckt zur Seite. Krallen, die härter waren als Stahl und schärfer als ein Barbiermesser, fuhren nur eine Handbreit neben ihrem Gesicht durch die Luft, und aus dem aggressiven Kreischen wurde ein fast enttäuschter Pfiff – und dann ein erschrockener Schrei, als sie instinktiv nach dem Falken schlug und ihn auch tatsächlich am Flügel erwischte; nicht einmal besonders fest, und schon gar nicht hart genug, um ihn zu verletzten, aber immerhin reichte es, um ihn aus der Bahn zu werfen und einen Moment wild mit den Flügeln schlagen zu lassen. Unverzüglich setzte Bast ihm nach, und einen normalen Vogel hätte sie auch zweifellos erwischt, aber
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