Anubis 02 - Horus
ein normaler Vogel hätte wohl auch kaum mit einem Schnabel nach ihr gebissen, der ganz so aussah, als könnte er ihr nicht nur einen Finger, sondern mit der gleichen Leichtigkeit auch gleich die ganze Hand abbeißen, und seine Federn wären vermutlich auch nicht scharf genug gewesen, um wie ein Skalpell in ihr Fleisch zu schneiden und ihren Handballen bis zum Knochen hinab aufzureißen.
Bast prallte mit einem überraschten Schrei zurück, presste die verletzte Hand an den Leib und zog instinktiv den Kopf ein, als der Falke nicht nur in einer ganz und gar unmöglich erscheinenden Bewegung herumfuhr, sondern auch augenblicklich mit den Flügeln nach ihr schlug und versuchte, dasselbe mit ihrem Gesicht zu tun. Bast schleuderte ihn mit einem zweiten, noch heftigeren Hieb zurück, griff mit der unversehrten Hand unter ihren Mantel und zog das Schwert, das sie wider besseres Wissen mitgenommen hatte. Noch vor wenigen Atemzügen war sie ganz und gar nicht sicher gewesen, ob es eine gute Idee war, bewaffnet zu einem Treffen mit dem stellvertretenden Chef der Londoner Polizei zu gehen, aber nun war sie froh, die Klinge bei sich zu tragen – auch wenn es im Grunde nicht einmal ein richtiges Schwert war, sondern eher ein zu groß geratener Dolch mit doppelseitig geschliffener Klinge.
Immerhin reichte sie, um den Falken auf Abstand zu halten. Ihr erster Hieb verfehlte den schwarzen Riesenvogel, der zweite traf dafür umso besser. Federn stoben, ein jetzt eindeutig schmerzerfülltes Pfeifen erscholl, und das Blut auf dem Schwertgriff war plötzlich nicht mehr ihr eigenes.
Der Falke taumelte davon; verletzt, aber keineswegs tödlich getroffen. Bast setzte ihm mit einer entschlossenen Bewegung nach, doch ihr nächster Schwerthieb ging ins Leere. Nur eine einzelne, abgetrennte Schwanzfeder segelte mit hin und her schaukelnden Bewegungen zu Boden, dann stieß der Vogel ein letztes, wütendes Krächzen aus und verschmolz so lautlos und schnell mit dem Nebel, wie er daraus aufgetaucht war.
Bast schlug noch einmal ebenso sinnlos wie wütend in die ungefähre Richtung, dann ließ sie die Waffe sinken und sah sich wild um. Ihre Hand pochte, und allein bei der bloßen Vorstellung, was diese schrecklichen Flügel ihrem Gesicht hätten antun können, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Aber Flügel aus Stahl und ein Schnabel wie eine Bärenfalle hin oder her – es war letzten Endes nur ein Vogel, und er hatte sie beinahe erwischt! Sie mochte sich seit heute Morgen wieder einigermaßen in Form fühlen, aber sie war es nicht.
Sie registrierte aus den Augenwinkeln, wie zwei der schemenhaften Gestalten auf der anderen Straßenseite stehen blieben und neugierig die Köpfe in ihre Richtung drehten. Wenn sie genauso schlecht sahen wie sie, konnten sie nur eine hektische Bewegung wahrgenommen haben, wenn überhaupt irgendetwas, aber vielleicht war selbst das schon zu viel. Wenn es in ihrem Leben so etwas wie eine oberste Maxime gab, dann lautete sie, kein Aufsehen zu erregen … und auf dieser war sie seit ihrer Ankunft hier herumgetrampelt wie der sprichwörtliche Elefant in der Porzellanmanufaktur. Hastig schlug sie den Mantel zurück, um das Schwert einzustecken …
… und erstarrte mitten in der Bewegung.
Es war nicht der Falke, der zurückkam, sondern etwas ungleich Größeres und Gefährlicheres. Sie konnte nicht genau erkennen, was; ein riesiger, verzerrter Schemen mit unsagbar fremden und doch zugleich vertrauten Umrissen, der rasend schnell herankam, ohne sich indes wirklich zu nähern und immer gerade eine Winzigkeit tiefer in den Nebelschwaden verborgen zu sein schien, als ihr Blick die grauen Schlieren zu durchdringen vermochte. Aber sie hatte trotzdem einen vagen Eindruck von schnaubenden Nüstern, unheimlich glühenden Augen und trommelnden Hufen, die Funken auf dem nassen Kopfsteinpflaster schlugen und gewaltigen, klingenbesetzten Rädern, über denen eine riesige Gestalt aufragte, das Schwert in der Linken und den rechten Arm, der einen tödlichen Speer hielt, wurfbereit hoch über dem Kopf erhoben. Bast trat instinktiv einen halben Schritt zurück und zur Seite, suchte mit leicht gespreizten Beinen und geduckt nach festem Stand, um sich gegen den Anprall zu wappnen. Der Streitwagen raste heran. Die rotierenden Klingen an seinen Rädern blitzten vor mörderischer Schärfe. Flammender Dampf schoss aus den Nüstern der beiden riesigen Schlachtrösser, und ihre Augen loderten wie glühende Kohlen am Grund eines bodenlosen
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