Anubis 02 - Horus
weil sie auf diese Weise auf dem Sims bleiben und nicht durch das hüfthohe brackige Wasser zur anderen Seite waten mussten. Bast spürte, dass sie sich ihrem Ziel näherten. Sie hörten schon lange keine Schreie mehr, aber sie konnte fühlen, dass der unglückselige Mann immer noch lebte, so unglaublich es ihr auch selbst vorkommen mochte. Aber sie fühlte auch noch etwas anderes, das sie weit mehr erschreckte: Der Gedanke an diesen weiteren sinnlosen Tod erfüllte sie mit einem ebenso tiefen Entsetzen wie Mitleid … aber etwas tief in ihr stürzte sich auch ebenso begierig auf diesen Schmerz und genoss ihn.
»Seinen Sie vorsichtig«, sagte sie leise. »Irgendetwas … ist dort vorne.«
»Der Drache?« Abberline versuchte vergebens, spöttisch zu klingen.
»Falls er angreift, schießen Sie auf die Augen«, antwortete Bast. »Das ist seine einzige verwundbare Stelle.«
Abberline sagte nichts, aber er sah plötzlich sehr erschrocken aus, und Jones umklammerte die geliehene Pistole mittlerweile so fest, dass Bast froh war, sich hinter ihm zu befinden, und einen Moment lang ernsthaft überlegte, Abberline eine entsprechende Warnung zukommen zu lassen. In diesem Moment hatte Abberline jedoch das Ende des Tunnels erreicht. Aus dem schmalen Sims wurde ein vier Fuß breiter Pfad, der sich am Rande eines gemauerten unterirdischen Sees entlangzog. Die gewölbte Decke erhob sich gute zehn oder zwölf Fuß hoch über ihren Köpfen, und die künstliche Höhle war so groß, dass sich der Lichtstrahl aus Abberlines Lampe verlor, bevor er das gegenüber liegende Ufer erreichte.
Abberline blieb stehen und schwenkte den Scheinwerfer langsam von links nach rechts und wieder zurück, aber alles, was der zitternde Lichtstrahl enthüllte, waren formlose Dinge, die auf dem Wasser trieben, und ein paar Ratten, die vor dem Licht flohen.
Dann war es vorbei. Das lautlose Wehklagen tief in ihren Gedanken erlosch, und Bast wusste, dass das Leiden des bedauernswerten Mannes endlich vorüber war.
»Wir können umkehren«, sagte sie. »Es ist vorbei.«
Abberline richtete den Lichtstrahl auf ihr Gesicht. »Was ist vorbei?«
»Barton«, antwortete Bast. »Er ist tot. Wenn Sie ihm nicht Gesellschaft leisten wollen, dann sollten wir umkehren.«
Trotz des grellen Lichtstrahls, den Abberline direkt auf ihre Augen abschoss, konnte sie den Ausdruck auf seinem Gesicht erkennen. Er gefiel ihr nicht. Er fragte auch nicht, woher sie ihr Wissen bezog.
»Seien Sie vernünftig, Inspektor«, fuhr sie fort. »Ich kann Sie verstehen, aber das hier nutzt keinem. Ihr Mann ist tot, und Sie riskieren nur unnötig Ihr Leben.«
Abberline machte ein abfälliges Geräusch. »Möglicherweise«, sagte er. »Aber ich werde dieses Ungeheuer bestimmt nicht weiter in meiner Stadt herumgeistern und Leute umbringen lassen.«
»Ich helfe Ihnen, die Sache zu Ende zu bringen«, antwortete Bast ernst. »Aber nicht jetzt. Sie brauchen ein paar Dutzend Männer und andere Waffen, um es zu töten.«
»Vielleicht … hat sie recht, Sir«, sagte Jones nervös. »Dieser Drache ist …«
»Halten Sie den Mund, Jones«, sagte Abberline zornig. »Und hören Sie mit diesem idiotischen Drachen-Gequatsche auf, Mann! Ich erkenne ein Krokodil, wenn ich eines sehe, und Sie sollten das auch!« Er funkelte den armen Kerl noch einen Atemzug lang an und wandte sich dann, kaum weniger zornig, wieder an Bast. »Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, Ma’am, dann wäre jetzt vielleicht der richtige Moment dafür.«
Wenn es überhaupt einen allerfalschesten Moment gab, dachte Bast, dann war es jetzt. Dass sie die Nähe des Drachen nicht spürte, bedeutete nicht, dass er nicht da war. All diese Gerüche, Geräusche und huschenden Schatten beeinträchtigten auch ihre Sinne, vielleicht sogar stärker als die von Abberline und Jones, und sie hatte Sobeks Kuscheltierchen nie gemocht und sich auch nie darauf verstanden, ihre Nähe zu spüren. Aber etwas war da.
»Noch einmal, Inspektor«, sagte sie. »Ich helfe Ihnen. Ich beantworte all Ihre Fragen, aber nicht jetzt und nicht hier. Wir müssen hier verschwinden.«
»Haben Sie Angst?«, fragte Abberline.
Ja, dachte Bast wütend, um dich, du Dummkopf. Laut sagte sie einfach nur: »Ja.«
Vielleicht war es gerade die Knappheit dieser Antwort, die Abberline beeindruckte. Er sah sie zwar weiter finster und auf eine Art an, als wolle er sie fressen, wirkte aber zugleich zum ersten Mal unschlüssig; und vielleicht sogar ein wenig erleichtert. Er hatte
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