Anubis 02 - Horus
Könnte? Was musste denn noch passieren, bis sie sich selbst eingestand, wie unvorstellbar leichtsinnig sie sich verhalten hatte?
Sie hatte nicht wirklich damit gerechnet, aber ihre Worte schienen Abberline tatsächlich nachdenklich zu stimmen. Er machte zwar noch einen halben Schritt, zögerte dann aber und wandte sich schließlich um … oder hätte es getan, wäre der Lichtstrahl nicht an etwas Dunklem und Nassem hängen geblieben. Hastig schwenkte er die Lampe wieder zurück, und hatte im nächsten Moment alle Mühe, einen entsetzten Schrei zu unterdrücken.
Es war ein abgerissener menschlicher Arm. Die verkrümmte Hand, der zwei Finger fehlten, ragte aus einem zerfetzten Jackenärmel, der einmal zu einer schwarzen Uniform gehört haben musste. Das erkannte Bast an dem eingedellten Messingknopf, der das Revers zierte.
Jones würgte hörbar und wankte einen Schritt zur Seite, wodurch er endgültig in der Dunkelheit verschwand, und Abberline zwang sich mit sichtlicher Überwindung, weiterzugehen, und ließ sich – in sicherer Entfernung von gut vier oder fünf Fuß – vor seinem schrecklichen Fund in die Hocke sinken.
»Barton?«, fragte Bast. Sie musste sich räuspern, damit ihre Stimme nicht zu sehr zitterte.
»Vermutlich!«, antwortete Abberline. »Aber wie kommt er hierher?«
Bast hatte eine ziemlich konkrete Vorstellung davon, aber sie schwieg, und Abberline richtete sich wieder auf und ließ den Lichtstrahl weiter in die Richtung wandern, in die die unterbrochene Blutspur geführt hatte. Sie endete nach vielleicht einem Dutzend Schritten vor einer verschlossenen Tür, die so aussah, als wäre sie seit mindestens einem Menschenalter nicht mehr geöffnet worden. Abberline ging hin, reichte die Lampe an Jones weiter, drückte mit der Linken die Türklinke nach unten und richtete mit der anderen Hand die Waffe direkt auf die Tür, als diese mit dem Knarren von jahrelang nicht mehr geölten Angeln nach innen schwang. Das Einzige, worauf er zielte, war jedoch staubige Dunkelheit.
Bast verfolgte die Szene aufmerksam, aber ohne allzu große Besorgnis. Sollte irgendjemand – oder irgendetwas – hinter dieser Tür auf Abberline warten, sie hätte es gespürt.
Behutsam schob der Inspektor die Tür zur Gänze auf und bedeutete Jones zugleich, den Lichtstrahl direkt in den dahinter liegenden Raum zu lenken. Was in dem jetzt immer mehr an Kraft verlierenden bleichen Schein zum Vorschein kam, das war ein Raum, der auf den ersten Blick winzig wirkte, in Wahrheit aber das genaue Gegenteil war: Es war ein niedriges, zugleich aber sehr weitläufiges Zimmer, das nur beengt wirkte, weil man es offensichtlich als Gerümpelkammer missbraucht hatte. Schreibtische, Bänke, Stühle und ausrangierte und zum Teil umgestürzte Schränke bildeten zusammen mit Kisten, Kartons, nahezu deckenhoch gestapelten Türmen aus übereinander geschichtetem Papier und Zeitschriften, verschnürten Jutesäcken und Fässern und allem möglichen anderen Krempel ein heilloses Durcheinander, in dem sich ihr Blick im allerersten Moment hoffnungslos verlor. Alles war bedeckt von einer Staubschicht, die an manchen Stellen zu schmierigen Klumpen zusammengebacken war und an schmutzigen grauen Schnee erinnerte, und die Luft, die ihnen entgegenschlug, war so trocken und verbraucht, dass Bast gegen einen plötzlichen Hustenreiz ankämpfen musste. Auch Abberline wedelte demonstrativ mit der Hand vor dem Gesicht, hielt sich dann die Finger der Linken über Mund und Nase und zog eine angewiderte Grimasse, bevor er – unendlich behutsam – durch die offen stehende Tür trat. Jones folgte ihm dichtauf und schwenkte seine Lampe, und der Lichtstrahl glitt tiefer in das stauberfüllte Halbdunkel des Zimmers.
Im nächsten Moment schrie Abberline erschrocken auf und gab rasch hintereinander zwei Schüsse aus seinem Revolver ab.
Bast war mit einem einzigen Satz neben ihm und riss das Schwert in die Höhe. Dann erstarrte sie, und ein Ausdruck, der irgendwo zwischen Verblüffung und unendlicher Erleichterung angesiedelt war, machte sich auf ihrem Gesicht breit.
Nicht, dass sie etwa nicht verstanden hätte, warum Abberline geschossen hatte. Der Raum war so hoffnungslos vollgestopft und überladen, dass das Wort Rumpelkammer noch geschmeichelt war. In seiner entlegensten Ecke jedoch und ganz gewiss nicht durch Zufall so, dass man es beim Eintreten nicht sofort sah, hatte sich jemand zu schaffen gemacht und eine geradezu bizarre Szenerie errichtet – zumindest
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