Anubis 02 - Horus
sie.«
»Wieso hat man diesen Bahnhof aufgegeben?«, erkundigte sich Bast.
»Die ganze Strecke wurde nach nur einem Tag wieder stillgelegt«, antwortete Abberline. Er leuchtete wieder auf die Schienen hinab. »Sehen Sie die Kette? Sie hatten damals die Idee, den Zug mit dieser Kette über die Schienen zu schleppen, aber es hat nicht funktioniert. Sie waren so langsam, dass man zu Fuß rascher zur nächsten Station gekommen wäre. Kommen Sie. Ich will endlich hier raus!«
Diesmal sichtbar entschlossener, drehte er sich mit einem Ruck herum und ließ den Lichtstrahl noch einmal über die staubigen Wände gleiten. Nach ein paar Augenblicken blieb er an einer zweiflügeligen, mit einer wuchtigen Kette und einem noch viel schwereren Vorhängeschloss gesicherten Tür hängen. Wortlos ging Abberline hin und überließ es ihr, Jones in nahezu vollkommener Dunkelheit auf die Füße zu helfen und ihm zu folgen.
Abberline machte sich umständlich an der Kette zu schaffen, als sie ihn erreichte, und empfing sie mit einem missmutigen Blick. Bast gebot ihm mit einer entsprechenden Geste, zurückzutreten, ließ Jones los und riss die Kette kurzerhand durch. Sie bedauerte diesen kleinen Anflug von Eitelkeit augenblicklich, als sie Abberlines vielsagendes Stirnrunzeln registrierte. Auch wenn er bisher sehr wenig über das gesagt hatte, was er von ihr – und vor allem über das, wozu sie fähig war – dachte, so war er doch nicht blind, sondern ganz im Gegenteil ein sehr aufmerksamer Beobachter. Bisher hatte sie wenig mehr als einen flüchtigen Gedanken an diesen Umstand verschwendet, aber das war gewesen, bevor sie begriffen hatte, dass der Scotland-Yard-Mann nicht zu denen gehörte, deren Erinnerungen sie fast nach Belieben manipulieren konnte. Bast nahm sich vor, ab sofort besser auf das zu achten, was sie sagte und vor allem tat.
Aber eigentlich war es ihr gleich. Etwas hier unten … stimmte nicht. Sie wollte einfach nur noch hier heraus, so schnell wie möglich. Als wäre etwas in ihr darum bemüht, die Situation nur noch schlimmer zu machen, trat sie mit einem übertrieben triumphierenden Lächeln zurück und machte eine auffordernde Geste. Abberlines Blick wurde noch einmal finsterer, aber er sparte sich jeden Kommentar, zog die zerbrochene Kette aus dem Schloss und ließ sie achtlos fallen, bevor er sich ächzend darum bemühte, die beiden schweren Torflügel aufzuschieben. Diesmal tat Bast ihm nicht den Gefallen, ihm zu helfen. Wer war sie denn, dachte sie spöttisch, einem echten englischen Gentleman die Peinlichkeit zu bereiten, sich von einer Lady die Tür aufhalten zu lassen?
»So, das hätten wir«, keuchte Abberline nach einigen schweißtreibenden Momenten. Immerhin hatte er die schweren Türflügel weit genug auseinanderbekommen, um sich mit einiger Mühe hindurchquetschen zu können. »Kommen Sie!«
Bast erweiterte den Türspalt unauffällig, um einen auch für sie und Jones passablen Durchgang zu schaffen, und folgte fasziniert dem zitternden Lichtstrahl, den Abberline vor ihnen die Stufen einer schier unendlich lang erscheinenden, hölzernen Treppe hinaufwandern ließ. Bast schätzte, dass sie aus mindestens hundert, wenn nicht mehr Stufen bestand … und so ganz nebenbei sah sie nicht unbedingt vertrauenerweckend aus. Eine dicke Staubschicht bedeckte die ausgetretenen Stufen, und ihr feiner Geruchssinn nahm vermoderndes Holz wahr. Sie konnte nur hoffen, dass diese uralte Konstruktion ihrem gemeinsamen Gewicht noch gewachsen war. Am oberen Ende der Treppe befand sich eine geschlossene und zusätzlich mit Brettern vernagelten Gittertür, die von einer zweiten, deutlich massiver aussehenden Kette gesichert war.
»Vielleicht sollten wir … nacheinander hinaufgehen?«, schlug sie vor.
Abberline machte ein übertrieben beleidigtes Gesicht. »Bitte verzeihen Sie, Mylady«, sagte er mit komisch verstellter, näselnder Stimme. »Aber das hier ist der ganze Stolz britischer Ingenieurskunst. Können Sie mir ein Gebäude auf der ganzen Welt nennen, das langlebiger und stabiler wäre?«
»Die Pyramiden von Gizeh?«, schlug Bast vor.
Abberline machte ein noch beleidigteres Gesicht, aber dann lachte er und schüttelte überzeugt den Kopf. »Keine Sorge. Auch wenn es nicht so aussieht – die Station wird regelmäßig kontrolliert. Das Letzte, was sich die Metropolitan wünscht, ist ein spielendes Kind oder ein Obdachloser, denen hier unten die Decke auf den Kopf fällt, glauben Sie mir. Kommen Sie.«
Er wedelte
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