Anubis 02 - Horus
würde. Wortlos stand sie auf, bückte sich nach der Lampe und schwenkte sie weit genug herum, um Jones und den erschossenen Drachen zu beleuchten.
Oder auch nur Jones.
Von dem Nildrachen war nichts mehr zu sehen. Jones’ Kopf saß vollkommen unversehrt auf seinem Schultern, wo er hingehörte, und auch seine Unterschenkel waren wieder da. Es gab auch nur sehr wenig Blut, das aus einer fast harmlos aussehenden, schwarz umrandeten Wunde ein kleines Stück unter seinem linken Auge sickerte und sich langsam zu einer dampfenden Lache unter seinem Hinterkopf sammelte. Abberline hatte ihm aus einer Entfernung von weniger als drei Fuß ins Gesicht geschossen.
»Aber wie … wie ist denn das … möglich?«, stammelte Abberline. »Wo ist das Krokodil? Ich habe es doch …«
»Sie haben genau das gesehen, was sie uns sehen lassen wollten«, unterbrach ihn Bast bitter. »Es gab nie einen Drachen.«
»Aber das ist doch unmöglich«, wimmerte Abberline. »Ich habe es doch gesehen! Mit … mit meinen eigenen Augen!« Statt direkt darauf zu antworten, richtete Bast die Lampe wieder auf den improvisierten Altar. Die beiden mumifizierten Nildrachen saßen erstarrt und so leblos wie seit Jahrtausenden an ihrem Platz und starrten sie aus ihren erloschenen Augen an.
»Aber … aber wie ist das möglich?«, stammelte Abberline. »Ich habe es doch gesehen! Ich … ich habe Jones doch nicht erschossen!«
»Ich fürchte, das haben Sie doch, Inspektor«, sagte Bast sanft. »Aber es ist nicht Ihre Schuld. Ich habe es auch gesehen.« Und wäre sie nicht vor Schrecken im allerersten Moment einfach wie gelähmt gewesen, dann hätte sie vielleicht ihr Schwert gezogen und den vermeintlichen Drachen erschlagen – und damit Jones selbst getötet. »Sie sind Meister der Täuschung, Inspektor. Sie lassen uns nur das sehen, was wir sehen sollen. Lüge und Illusion sind ihre stärkste Waffe. Aber ich hätte nicht geglaubt, dass sie auch mich so leicht täuschen können.« Sie hob die Stimme. »Lass es gut sein, Sobek. Ich weiß, dass du da bist.«
Einen halben Atemzug lang – gerade lange genug, um den allerersten Hauch eines Zweifels in ihr aufkeimen zu lassen – geschah gar nichts, aber dann erscholl ein tiefes, kehliges Lachen, und eine vollkommen in Schwarz gehüllte Gestalt trat aus den Schatten am anderen Ende des Raumes.
»Jetzt sollte ich eigentlich verletzt sein, Bastet«, sagte Horus. »Du weißt doch, dass Lüge und Trug mein Metier sind, während Sobek die ehrliche Klinge vorzieht. Ist es nicht so, Bruder?«
Das Rascheln von schwerem Stoff erklang, und in den Schatten jenseits des improvisierten Opferaltars glomm ein winziger gelber Funke auf, der binnen eines Moments zur ruhig brennenden Flamme einer Petroleumlampe wurde, hinter der ein monströs verzerrter Schatten in die Höhe wuchs. Selbst als Sobek das Glas herunterschob und die Flamme so gelassen größer drehte, als gäbe es im Moment weder etwas Wichtigeres auf der Welt, noch hätte er irgendeinen Grund zur Eile, vermochte der gelbe Schein sein Gesicht nicht wirklich zu erhellen. Dennoch spürte Bast seine Schwäche. Jetzt, wo sie Horus und ihn sah, vermochten die beiden ihre Tarnung nicht mehr länger aufrechtzuerhalten. Vielleicht machten sie sich auch einfach nicht mehr die Mühe. So oder so spürte sie, dass Sobeks äußerliche Ruhe nichts als eine mühsam aufrechterhaltene Maske war. Er hatte Schmerzen, und seine Kraft schien kaum noch auszureichen, um sich auf den Beinen zu halten. Abberline musste ihn noch schwerer verwundet haben, als sie bisher angenommen hatte.
»Wer ist das?«, fragte Abberline. »Sind das …?«
»Warum bist du gekommen?«, fragte Horus, als hätte Abberline gar nichts gesagt. Er kam näher, maß Abberline mit einem beiläufig-verächtlichen Blick und wies dann auf Basts Schwert. »Bitte steck die Waffe ein, Bastet. Ich will nicht mit dir kämpfen.«
»Aber ich vielleicht mit dir«, antwortete Bast. Sie kam sich selbst albern dabei vor. »Warum habt ihr Arthur getötet?«
Horus machte ein fragendes Gesicht.
»Meinen Fahrer.«
»Oh, ja. Es hatte einen Namen, ich vergaß.« Horus machte ein verächtliches Geräusch. »Hast du dich entschieden?«
»Wer, zum Teufel, sind Sie?«, fuhr Abberline ihn an. »Und was …?«
Horus versetzte ihm einen Schlag mit dem Handrücken. Die Bewegung wirkte beiläufig, fast gelangweilt, aber der Hieb war trotzdem hart genug, Abberline von den Füßen zu reißen und meterweit davonfliegen zu lassen, bevor
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