Anubis 02 - Horus
Moment lang erwartungsvoll an, akzeptierte dieses Schweigen aber schließlich, wenn auch mit einer spürbaren, kaum verhohlenen Enttäuschung.
Sie hätte nicht herkommen sollen. Sie sollte nicht hier sein. Nicht vor diesem Gebäude. Nicht in dieser Stadt. Nicht einmal in diesem Land. Der jähe Schrecken, der sie beim Anblick des Falken überkommen hatte, verblasste allmählich wie die Erinnerung an einen schlimmen, aber kurzen Schmerz, doch die Angst blieb. Es war das dritte Mal, dass sie diesem unheimlichen Vogel begegnete, und sie hätte schon beim ersten Mal begreifen müssen, dass dieses Tier alles war, nur kein harmloser Vogel, und dass sich ihre Wege ganz gewiss nicht durch Zufall gekreuzt hatten. Früher hätte sie es begriffen. Was musste noch geschehen, bis sie sich endlich eingestand, was mit ihr nicht stimmte?
»Miss Bast?«, fragte Mrs Walsh, nun wieder in eindeutig besorgtem Ton, und Bast verscheuchte auch diesen Gedanken – mit noch mehr Mühe – und zwang sich zu einem kleinen, nervösen Lächeln.
»Es ist alles in Ordnung«, versicherte sie.
»Ganz bestimmt?« Mrs Walsh sah nicht unbedingt so aus, als würde sie dieser Behauptung Glauben schenken oder wäre auch nur im Mindesten beruhigt. »Vielleicht war es doch keine so gute Idee, hierherzukommen«, fuhr sie fort. »Verzeihen Sie einer dummen alten Frau, die …«
»Das hat nichts mit Ihnen zu tun«, unterbrach sie Bast, ebenso nervös wie unbeholfen. »Sie haben recht: Ich hatte ein schlimmes Erlebnis mit einem Raubvogel, in meiner Jugend. Seither habe ich … Probleme mit solchen Tieren. Es ist lange her, und es ist albern, ich weiß, aber …« Sie beendete den Satz mit einem Schulterzucken, und Mrs Walsh nickte mitfühlend.
»Das verstehe ich«, sagte sie – was Bast ernsthaft bezweifelte. »Wir müssen auch nicht dort hineingehen, wenn Sie es nicht wollen. Es war nur eine Idee von mir, und wie es aussieht, keine besonders gute. Lassen Sie uns einfach zurückfahren und noch einen Tee trinken.«
Und natürlich wäre das das einzig Vernünftige. Was gäbe es dort drinnen zu sehen, was sie nicht bereits kannte und was sie nicht zudem in Trauer oder auch Zorn versetzen würde, es missbraucht und verschleppt und so weit fort von ihrer Heimat zu sehen? Gloria Walsh hatte in diesem Moment zweifellos recht; wenn auch auf eine Art und Weise, die sie niemals begreifen würde. Und Bast setzte gerade dazu an, ihr zuzustimmen und irgendeinen anderen, willkürlich ausgewählten Ort vorzuschlagen, den sie ihr zeigen konnte, um den vermeintlich schlechten Eindruck wettzumachen, den ihre Heimatstadt ihrer Meinung nach bei ihr hinterlassen haben musste, als sie die Gestalt sah.
Es war nicht einmal wirklich eine Gestalt, aber auch kein bloßer Schatten, sondern etwas … dazwischen; wie ein Schwarm winziger schwarzer Fliegen, der sich durch eine bloße Laune des Zufalls zu einer Form zusammengefunden hatte, die an eine menschliche Gestalt erinnerte, oder feiner schwarzer Wüstensand, mit dem der Wind spielte. Sie stand einfach da, von einem Lidschlag auf den anderen wie aus dem Nichts erschienen, direkt unter dem weit offen stehenden Eingang des Museums, riesig und lautlos und vollkommen ohne Tiefe, und ganz offensichtlich existierte sie tatsächlich nicht, oder wenn doch, dann nur für sie, denn noch während Bast dastand und die unheimliche Erscheinung anstarrte, bewegte sich ein älteres Paar auf dem Weg ins Museum direkt auf die Erscheinung zu und trat hindurch, ohne auch nur einen Augenblick zu stocken. Aber für Bast war sie mehr als real. Sie spürte nicht nur ihre Präsenz, wie das Knistern elektrischer Energie kurz vor dem Ausbruch eines Sommergewitters auf der Haut, sie fühlte auch den Blick uralter, gnadenloser Augen, die direkt bis in die verborgensten Abgründe ihre Seele zu schauen schienen.
»Miss Bast?«, fragte Mrs Walsh noch einmal. Jetzt klang sie nicht besorgt, sondern eindeutig erschrocken.
Bast blinzelte, und die Erscheinung war verschwunden. Aber sie spürte, wie schnell und hart ihr Herz schlug, und ihre rechte Hand glitt ganz ohne ihr Zutun unter ihren Mantel. Alles, was sie fand, war der grobe Stoff ihres schwarzen Kleides, anstelle des vertrauten Gewichts der Waffe, die sie normalerweise dort zu tragen pflegte.
»Ich bin jetzt ziemlich sicher, dass es keine gute Idee war, hierherzukommen«, fuhr Mrs Walsh energischer fort. »Lassen Sie uns woanders hingehen. Was halten Sie vom Trafalgar Square? Wir sind nicht allzu weit
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