Anubis 02 - Horus
Schauer über den Rücken lief.
Sah man davon ab, dass der wolkenlose und strahlend blaue Himmel ein Versprechen auf eine Wärme und Trockenheit abgab, das er nicht halten konnte, dass die Menschen, die sie umgaben, anders gekleidet und lauter waren und sich in einer Sprache unterhielten, die ihre an den melodischen Klang anderer Sprachen gewöhnten Ohren beleidigte, und dass diese Stadt in ihrer Gänze entsetzlich stank, so erweckte der Anblick des am oberen Ende einer gewaltigen Freitreppe liegenden kolossalen Baues seltsam vertraute Erinnerungen in ihr, stieß sie zugleich aber auch geradezu ab. Sie hatte durchaus etwas Großes erwartet, als Mrs Walsh von einem Museum gesprochen hatte, vielleicht etwas wie das ägyptische Museum in Kairo – in dem sie, unbeschadet von allem, was sie Mrs Walsh gegenüber behauptet hatte, schon unzählige Male gewesen war –, doch der von kolossalen Säulenreihen flankierte Eingang der nicht minder gewaltigen Museumshalle hatte sie im allerersten Moment regelrecht schockiert. Jeder der Pfeiler war dicker als die stützenden Säulen, die das Dach des Horustempels in Theben getragen hatten, und hoch wie der Mast des Schiffes, doch im Gegensatz zu diesen dienten sie nicht wirklich dem Zweck, den gewaltigen dreieckigen Giebel zu stützen oder gar ein Dach zu tragen, sondern einzig und allein ihrer eigenen Größe. Der riesige zweiflügelige Eingang dahinter unterstrich diesen Eindruck noch; denn nicht einmal zu Zeiten, als tatsächlich Riesen über die Erde gewandelt waren, wäre eine Tür dieser Größe zu irgendeinem vorstellbaren Zweck notwendig gewesen – außer ebenjenem, dem dieses ganze Gebäude diente: demjenigen, der davorstand und es betrachtete, seine eigene Winzigkeit und Bedeutungslosigkeit vor Augen zu führen.
»Was haben Sie, meine Liebe?«
Mrs Walshs Stimme drang ebenso hart und unmelodisch an ihr Ohr wie die Gesprächsfetzen und einzelnen Worte der Menge ringsum, und doch war Bast ihr beinahe dankbar, brachte sie diese Frage doch nicht nur in die Wirklichkeit zurück, sondern zerstörte auch den unguten Zauber des Augenblicks, in dessen Fäden sie sich mehr und mehr zu verstricken gedroht hatte. Bast nahm es als neuerliche Warnung, ihren momentanen Zustand der Schwäche nicht zu unterschätzen und endlich etwas dagegen zu unternehmen. Zu ihrer eigenen gelinden Überraschung war der Hunger tief in ihrer Seele nicht mehr ganz so schlimm, seit sie an diesem Morgen erwacht war, aber er war da, keineswegs erloschen und nicht einmal wirklich schlafend, sondern nur lautlos und geduldig auf der Lauer liegend wie eine sandfarbene große Schlange in ihrem Versteck, die vollkommen mit ihrer Umgebung verschmolzen war und nur auf einen Moment der Unaufmerksamkeit wartete, um hervorzuschnellen und ihr Opfer zu verschlingen.
Es wäre nicht das erste Mal, dass sie so etwas erlebte.
»Miss Bast?«, fragte Mrs Walsh. Sie lächelte unerschütterlich weiter, wie sie es nahezu immer tat, aber sie klang zugleich auch eindeutig besorgt, und Bast rief sich in Gedanken ein zweites Mal und noch schärfer zur Ordnung.
»Es ist … nichts«, antwortete sie, ein bisschen hastig und mit einem Lächeln, das ebenso wenig überzeugte wie ihre Worte. »Ich war nur … überrascht, das ist alles.«
Mrs Walsh ließ sie im Unklaren darüber, was sie von dieser Antwort hielt, und wandte sich stattdessen wortlos ab, um den Kutscher zu bezahlen. Sie hatte schon im Vorhinein darauf bestanden, sowohl die Fahrt hierher als auch das Eintrittsgeld für sie beide zu übernehmen, und Bast hatte nicht dagegen protestiert – obwohl sie längst erkannt hatte, dass nicht alles von dem stimmte, was Mrs Walsh über ihre wirtschaftliche Lage und den Zweck ihrer Pension erzählt hatte. Möglicherweise betrachtete sie es tatsächlich als ihre Aufgabe und auch eine Art von Zeitvertreib, die winzige Frühstückspension zu leiten und sich um das Wohl ihrer Gäste zu kümmern, aber wenn, dann war es ein Zeitvertreib, den sie zugleich bitter nötig hatte. Aus einem Grund, den herauszufinden Bast sich nicht die Mühe gemacht hatte und der sie auch nichts anging, lief ihre Pension schon seit langem nicht so gut. Streng genommen war ihr grauhaariger Dauergast zugleich auch beinahe ihr einziger Gast, sah man von den gelegentlichen Besuchern ab, die er manchmal von seinen Reisen anschleppte und mehr oder weniger trickreich dazu brachte, dass sie sich für ein paar Tage bei Mrs Walsh einmieteten. Die wenigen Pennys für die
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