Anubis 02 - Horus
warmer Schauer, fühlte sie wieder die Berührung seiner Lippen auf ihrer Haut, das zärtliche Streicheln seiner Hände, die ihren Körper mit derselben Aufmerksamkeit erkundeten, wie sie auch fähig gewesen waren, die Geschicke eines ganzen Volkes zu leiten, ein Kind zu streicheln oder ein Schwert zu führen, glaubte sie seine Stimme zu hören, die ihr Worte der Liebe ins Ohr flüsterte und ein Versprechen auf die Ewigkeit abgab, das er so wenig hätte einhalten können wie alle anderen vor ihm und danach.
Dann löste sich ihr Blick von der Stein gewordenen Erinnerung an den Mann, mit dem sie fast ein Jahrhundert lang verheiratet gewesen war, erkundete den Raum dahinter, und was sie sah, löschte die Erinnerung augenblicklich aus und ließ eine wahre Explosion einander widersprechender Gefühle und Empfindungen hinter ihrer Stirn und in ihrem Herzen aufflammen. Plötzlich war alles da, was sie erwartet und befürchtet hatte: Zorn, Trauer, Entsetzen und Wut und noch viel mehr, viel Schlimmeres. Aber der Sturm erlosch so schnell, wie er gekommen war, und alles was zurückblieb, war eine auf sonderbare Weise mit Schmerz gepaarte, stille Empörung.
Plötzlich war sie froh, den Schleier vor ihrem Gesicht befestigt zu haben, denn obwohl davon wenig mehr als ihre Augen zu sehen waren, schien ihre Reaktion Mrs Walsh nicht entgangen zu sein. Bast kam ihrer entsprechenden Frage zuvor, indem sie rasch den Kopf schüttelte und eine zusätzliche Bewegung mit der Hand machte. »Ich war nur überrascht«, sagte sie.
»Aber doch hoffentlich angenehm.«
»Nach Ihren Worten habe ich eine Menge erwartet, aber nicht … das«, erwiderte Bast ausweichend. »Es ist … beeindruckend.«
Zumindest das war es, wie Bast widerwillig eingestehen musste. Der Raum war riesig – nicht wirklich größer als die monströse Eingangshalle, die sie gerade durchquert hatten, erweckte aber durch die geschickte Platzierung der ausgestellten Statuen, Stelen und Wandbilder und das raffiniert eingesetzte Licht den Eindruck, sie wäre es – und angefüllt mit den unterschiedlichsten Fundstücken; angefangen von den beiden kolossalen Statuen beiderseits des Eingangs bis hin zu endlosen Reihen gläserner Vitrinen voller antikem Schmuck, Waffen, Gegenständen des täglichen Bedarfs und sorgsam restaurierten Papyrusrollen.
Und nichts davon gehörte hierher.
Der schon erloschen geglaubte Zorn flammte noch einmal und noch heißer in ihr auf, erlosch aber auch fast genauso schnell wieder. Es gab nichts, was sie tun konnte, nicht hier und nicht jetzt, und Bast gemahnte sich in Gedanken zur Besonnenheit. Es war zweifelsohne ein Fehler gewesen, überhaupt hierherzukommen, aber es war auch noch nie ihre Art gewesen, über vergossene Milch zu jammern. Wenn sie schon einmal hier war, konnten sie auch tun, wozu sie eigentlich gekommen waren. Oder es wenigstens versuchen.
»Also?«, fragte sie.
Mrs Walsh sah sie verständnislos an.
»Wir sind nicht nur hierhergekommen, um die Kunstschätze meines Landes zu besichtigen«, erinnerte Bast sanft. Das »meines« bedauerte sie schon, bevor sie das Wort ganz ausgesprochen hatte, doch Mrs Walsh schien es gar nicht gehört zu haben, oder sie hatte sich noch besser in der Gewalt, als Bast ohnehin schon annahm. Sie sah zwar ein wenig verdutzt aus, blickte sich aber zugleich auch schon suchend um und deutete nach kaum einer Sekunde auf eine grauhaarige Gestalt in der gleichen, dunkelblauen Fantasieuniform, wie sie auch die Kartenverkäuferin am Eingang getragen hatte, die unweit einer der riesigen Statuen stand und die Besucher aus Argusaugen beobachtete. »Ich werde einen der Wächter fragen«, sagte sie. »Vielleicht erinnert er sich ja an Ihre Freundin.«
Bast fragte sich zwar, warum sie sich mit dieser Frage nicht gleich an die Kartenverkäuferin am Eingang wandte – schließlich musste jeder Besucher zwangsläufig an ihr vorbei, ob er wollte oder nicht –, beließ es aber bei einem stummen Kopfnicken. Immerhin hatte sie Mrs Walsh auf dem Weg hierher eine knappe Beschreibung von Isis geliefert, die vollkommen ausreichte – schließlich war es mit Isis nicht anders als mit ihr selbst: Auch wenn sie nicht über ihre beeindruckende Größe und nachtschwarze Haut verfügte, so vergaß doch niemand so schnell ihr Gesicht, der es einmal gesehen hatte.
Doch es gab noch einen anderen Grund, aus dem sie geradezu erleichtert war, als Mrs Walsh sich unverzüglich herumdrehte und den Wächter ansteuerte. Das bange Gefühl,
Weitere Kostenlose Bücher