Anubis - Roman
letzte, das er in seinem Koffer fand. Sein Magen knurrte wieder, als hätten Miss Preusslers Worte jeden seiner Körperteile einzeln daran erinnert, dass er heute noch nichts zu sich genommen hatte, und ihre lautstarke Einladung zum Essen kam Mogens nur recht. Er wäre ihr allerdings auch gefolgt,wenn er nicht hungrig gewesen wäre. Sich einer Einladung Miss Preusslers zum Essen entziehen zu wollen war ein hoffnungsloses Unterfangen. Zum Abschluss trat er noch einmal an den fleckigen Spiegel über dem Waschbecken heran, nur um sicherzugehen, dass sein Äußeres Miss Preusslers gestrengen Blicken auch standhalten würde.
Der Blick in den Spiegel war … unheimlich. Die blinden Stellen und zahllosen Kratzer und Schrammen nahmen seiner Physiognomie jegliche Vertrautheit, aber sie machten sie nicht wirklich zu der eines Fremden, sondern ließen sie auf eine düstere Weise falsch erscheinen, so wie ein menschliches Gesicht niemals aussehen sollte. Es war nicht einmal wirklich erschreckend, aber Mogens musste plötzlich wieder an das denken, was Graves ihm am Morgen erzählt hatte, über die Dinge, die Menschen niemals sehen sollten, und das machte ihm Angst. Sein Herz begann schneller zu schlagen, und er war nicht einmal überrascht, als die Schatten hinter seinem Spiegelbild zu scheinbarem Leben zu erwachen begannen.
Mogens gestattete den abstrusen Ausgeburten seines Unterbewusstseins nicht, sich zu materialisieren, sondern drängte sie mit einer bewussten Willensanstrengung zurück und verließ mit schnellen Schritten das Haus. Als er die Stelle passierte, an der der Spiegel ihm die tänzelnden Schatten vorgegaukelt hatte, vermeinte er etwas wie einen eisigen Hauch zu spüren, der seine Seele streifte. Mogens unterdrückte das Frösteln, das über seinen Rücken laufen wollte, und erteilte sich selbst in Gedanken eine weitere Rüge. Sich der Tatsache bewusst zu sein, dass er sich in einer außergewöhnlichen Gemütsverfassung befand, gab seiner Fantasie noch lange nicht das Recht, derart über die Stränge zu schlagen.
Obwohl er sich beeilt hatte, kam er als Letzter an. Tom hatte bereits am Tisch Platz genommen, während Graves zwei Schritte daneben stand und irgendwie hilflos wirkte, um nicht zu sagen, deplatziert. Ebenso wie Tom trug er die gleichen Kleider wie am Morgen. Miss Preussler goutierte den Umstand, dass Mogens sich – wenn auch als Einziger – zum Essen umgezogen hatte, mit einem dankbaren Lächeln, fragte abertrotzdem in prophylaktisch-missbilligendem Ton: »Sie haben sich doch hoffentlich die Hände gewaschen, Professor?«
Ihr verstohlenes Blinzeln entging Mogens so wenig wie das mühsam unterdrückte Funkeln in ihren Augen, aber er beschloss, das Spiel mitzumachen, und streckte gehorsam die Hände aus, sodass Miss Preussler seine Fingernägel begutachten konnte.
»So ist es gut«, sagte sie zufrieden. »Bei all diesen alten Büchern weiß man ja nie, wer sie vorher angefasst hat und welche Krankheiten er womöglich gehabt hat!« Sie deutete auf den Tisch. »Setzen Sie sich, Professor. Und was ist mit Ihnen, Doktor Graves?«
Mogens hätte fast laut aufgelacht, als er sah, dass Graves ganz automatisch auf seine schwarzen Handschuhe hinabsah, bevor er sich in ein reichlich verunglücktes Lächeln rettete. »Miss Preussler, wir … essen hier eigentlich nicht zu Mittag.«
»Ja, so habe ich mir das gedacht«, sagte Miss Preussler. »Aber mit dieser halbgaren Männerwirtschaft ist ab sofort Schluss. Ich glaube, es war höchste Zeit, dass hier endlich eine Frau nach dem Rechten sieht. Wissen Sie denn nicht, wie wichtig eine regelmäßige Ernährung ist, Doktor?«
»Ihre Sorge in Ehren, Miss Preussler«, sagte Graves in nun leicht ungeduldigem Ton. »Aber für so etwas haben wir keine Zeit.«
»Humbug!«, fuhr ihm Miss Preussler über den Mund. »Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen, und ein leerer Bauch studiert nicht gern, oder etwa nicht?« Sie wedelte unwillig in Richtung Tisch. »Jetzt setzen Sie sich schon und fangen an zu essen. Oder wollen Sie mich beleidigen?«
Mogens spürte, wie irgendetwas hinter Graves’ noch immer halbwegs beherrschter Fassade umzukippen drohte. Während er seinen Teller heranzog und nach dem Besteck griff, sagte er rasch: »Aber Miss Preussler! Haben Sie vergessen, dass Doktor Graves nur gewisse Nahrungsmittel zu sich nehmen darf?«
»Oh«, sagte Miss Preussler betroffen. Sie hatte es vergessen. Aber sie fing sich sofort wieder. »Wenn Sie mir die
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