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Anubis - Roman

Titel: Anubis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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der verging, war er sicherer, dass es ein Fehler gewesen war, auf Graves zu hören und zu bleiben. Graves’ Argumente waren zwingend; es gab nichts, was er dagegen sagen konnte, nichts, was dafür sprach, nicht hier zu bleiben und das Rätsel jener unheimlichen Kreaturen zu lösen, die Janice getötet und sein Leben in einen Scherbenhaufen verwandelt hatten. Und doch: Tief drinnen in ihm war eine leise, drängende Stimme, die ihm beharrlich zuflüsterte, dass er hier weg musste, dass Graves ihm trotz allem noch immer nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte und dass es da noch ein weiteres, viel gefährlicheres Geheimnis gab. Und dass er in Gefahr war, einer schrecklichen Gefahr, die mit jedem Moment größerwurde, wenn er blieb. Es war nicht nur ein Gefühl. Es war ein absolutes, tief verwurzeltes Wissen, das keine Begründung brauchte. Etwas lauerte dort unten, hinter der verschlossenen Tür.
    Unabhängig davon war sich Mogens des Umstandes bewusst, dass er Graves gegenüber alles andere als objektiv war. Mit dem, was Graves ihm am Morgen offenbart hatte, hatte er ihn quasi überrumpelt, aber mit jeder Minute, die verstrich, erwachte Mogens’ Misstrauen weiter. Es spielte keine Rolle, ob er Graves’ Verhalten fair beurteilte oder nicht. Die Wahrheit war: Er wollte ihm gegenüber nicht Gerechtigkeit walten lassen. Etwas in ihm hatte regelrecht Angst vor dem Augenblick, in dem er vielleicht zugeben musste, im Unrecht gewesen zu sein. Graves hatte sich in einem Punkt geirrt: Während der letzten neun Jahre war es nicht nur der Schmerz um Janice gewesen, der ihm die Kraft zum Weiterleben gegeben hatte, sondern mindestens in gleichem Maße auch sein Hass auf Jonathan Graves. Er war nicht bereit, ihn auch noch aufzugeben.
    Das Scheppern wiederholte sich, und es klang diesmal eindeutig ungeduldiger, fast zornig. Mogens warf noch einen letzten, abschließenden Blick in den aufgeschlagenen Folianten – mittlerweile weigerten sich selbst die Buchstaben, einen Sinn zu ergeben, sondern reihten sich vor seinen Augen zu einer Kette wirrer Zeichen und Symbole, die sich auf unheimliche Weise zu bewegen begannen, wenn er sie zu lange anblickte –, sah die Sinnlosigkeit seines Tuns endlich ein und klappte das Buch endgültig zu. Vielleicht erwartete er einfach zu viel von sich selbst. Immerhin hatte er heute Dinge erfahren, die nicht nur die letzten neun Jahre seines Lebens in einem vollkommen anderen Licht erscheinen ließen, sondern auch sein gesamtes Weltbild ins Wanken brachten. Glaubte er tatsächlich, dies alles mit einem Achselzucken abtun und zur Tagesordnung übergehen zu können, als wäre nichts passiert?
    Die Antwort auf diese Frage war ein ganz eindeutiges Ja, aber die Vorstellung war zugleich auch so absurd, dass er übersich selbst den Kopf schüttelte, während er das Buch an seinen angestammten Platz auf dem Regal zurückstellte und zur Tür ging.
    Das Scheppern und Klingeln ertönte zum dritten Mal, als Mogens die Tür öffnete, und als er aus dem Haus trat und in das ihm nach Stunden angestrengten Lesens im Halbdunkel seiner Hütte als gleißend hell erscheinende Sonnenlicht blinzelte, bot sich ihm ein Anblick, der ebenso verblüffend wie komisch war: Miss Preussler stand, mit Kittelschürze und Häubchen bewaffnet, auf den Stufen ihres Hauses und hielt einen großen Kochtopfdeckel am ausgestreckten rechten Arm. Ihre andere Hand hielt eine ebenso großformatige Schöpfkelle, mit der sie fröhlich auf selbigen einschlug.
    Mogens war nicht der Einzige, den der Lärm neugierig gemacht hatte. Beinahe gleichzeitig mit ihm trat auch Graves aus dem Haus. Selbst über die große Entfernung hinweg glaubte Mogens den verärgerten Ausdruck auf seinem Gesicht zu erkennen.
    »Was ist denn da los?«, raunzte er. »Was soll dieser infernalische Lärm, Miss Preussler?«
    Miss Preussler schlug fröhlich noch zweimal mit dem Schöpflöffel gegen ihren improvisierten Gong. »Das Essen ist fertig«, rief sie. »Wo bleiben Sie denn?«
    »Essen?« Graves wiederholte das Wort, als könne er nicht wirklich etwas damit anfangen.
    »Es ist Mittagszeit, Doktor«, antwortete Miss Preussler. »Also kommen Sie bitte, bevor alles kalt wird.«
    Damit verschwand sie wieder im Haus, und die Tür fiel hinter ihr zu. Graves warf Mogens einen fast hilflosen Blick zu, auf den dieser aber nur mit einem knappen Achselzucken reagierte, bevor er wieder ins Haus zurücktrat, um sich die Hände zu waschen und ein frisches Hemd anzuziehen; es war das

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