Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Anwältin der Engel

Titel: Anwältin der Engel
Autoren: Mary Stanton
Vom Netzwerk:
und man hat mich mit Fragen über die sogenannte Abfindung von Miss Chavez bombardiert.«
    Brees Hand stahl sich zu der Spritze und dem Briefbeschwerer, die in ihrer Tasche steckten. »Ich kann eine Verfügung erwirken, um diese Leute vom Haus fernzuhalten, George.«
    Abweisend schüttelte er den Kopf. »Darum kümmern sich schon meine eigenen Rechtsanwälte. Lassen Sie uns jetzt endlich die Academy anrufen. Je eher ich mich wieder an meine eigentliche Arbeit machen kann, desto besser.«

Es ist ein weißer Wal, sage ich.
Herman Melville, Moby Dick
    »Onkel Jay hat mir damit Blut abgenommen«, sagte Lindsey mit einem Achselzucken.
    »Sie meinen John Lindquist?«, hakte Bree nach.
    Lindsey nickte. »Und wenn er nicht da war, hat Dad es getan. Niemand durfte davon wissen.« Sie blickte auf die Spritze, die Bree gerade auf den Tisch gelegt hatte. Die Schuldirektorin, eine Miss Violet Henry, hatte ihnen eines der gut ausgestatteten, ruhigen Besuchszimmer angeboten, die im Erdgeschoss des wunderschönen alten Herrenhauses lagen, in dem die Cliff’s Edge Academy untergebracht war. »Haben Sie Anne Rice gelesen?«
    »Wie? Nein, leider nicht.«
    »Als ich klein war, habe ich immer gedacht, sie sind Vampire, Dad und Onkel Jay. Oder dass sie das Blut für irgendein unheimliches Ritual brauchen, wissen Sie? Wie in diesem Videospiel, Vampire’s Bloodlust. Und dann musste ich in einen Becher pinkeln.«
    Laboruntersuchungen, dachte Bree. Von wegen unheimliche Rituale. Aber wozu das Ganze?
    »Na?«, sagte Lindsey erwartungsvoll.
    »Das ist wahrscheinlich das Gruseligste, das ich je gehört habe.«
    »Ja?«, erwiderte Lindsey. »Dann glauben Sie mir also?«
    »Natürlich glaube ich Ihnen«, sagte Bree in sanftem Ton. »Was ich aber überhaupt nicht verstehe, ist, was eigentlich dahintersteckt. Ich meine, gehen Sie denn nicht regelmäßig zur Untersuchung?«
    Lindsey zupfte an ihrer Oberlippe herum. »Ich glaube, ich habe AIDS. Die wollten aber nicht, dass das jemand erfährt.«
    »Was?« Bree fasste über den Tisch und ergriff Lindseys Hände. »Wer hat Ihnen denn das erzählt?«
    »Na, es muss doch so etwas sein, oder? Onkel Jay hat gesagt, wenn jemand wüsste, was ich habe, würde mich nicht eine einzige Schule im ganzen Land aufnehmen, und ich würde auch keine Freunde mehr haben.«
    Bree drehte Lindseys Hände herum und betrachtete die Nägel, die völlig abgekaut waren, jedoch immerhin eine rosige Farbe hatten. Ihre Hände waren warm, und ihr ganzer Körper war, wie man es in einem Krankenhausbericht formulieren würde, der einer gut genährten, weißen weiblichen Person von etwa siebzehn Jahren. Abgesehen von den verdruckst hochgezogenen Schultern und dem mürrischen Gesichtsausdruck wirkte Lindsey eigentlich vollkommen gesund. Was, wie Bree wusste, nicht ausschloss, dass das Kind trotzdem an einer schrecklichen, tödlichen Krankheit litt. Wenn sie einmal Aufputschmittel genommen hatte, dann merkte man jetzt jedenfalls nichts mehr davon.
    »Nehmen Sie irgendwelche Medikamente, Lin?«
    »Vitamine.«
    »Das ist alles?«
    »Ja sicher!« Sie rutschte weiter auf dem Stuhl nach unten und funkelte Bree wie eine wütende Katze an.
    »Und was ist mit Drogen?«
    »Das ist das Erste, woran ihr Erwachsenen immer denkt, wenn ihr mit uns redet«, sagte Lindsey. »Drogen, Drogen. Blablabla. Wie oft soll ich es denn noch sagen? Wir nehmen keine Drogen.« Sie wandte den Blick ab und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.
    Das Wort wir ließ Bree aufhorchen, und sie entschloss sich ­ wenn auch mit schlechtem Gewissen ­ zu einem kleinen Täuschungsmanöver. »Da habe ich aber was anderes gehört, Lindsey«, entgegnete sie.
    Flackerte etwa Angst in den zornigen Augen des Mädchens auf? Ja. Gut.
    »Ich habe mit Chad gesprochen.«
    »Chad«, wiederholte Lindsey mit tonloser Stimme.
    »Und auch mit Madison und Hartley.«
    Schweigen. Lindsey zog die Schultern noch weiter hoch und machte die Schotten dicht.
    Bree ließ sie gewähren. Es ist überraschend schwierig, ein vollkommenes Schweigen zu wahren, wenn man zu zweit zusammensitzt. Bree gab keinen Laut von sich, hatte die Hände im Schoß gefaltet und den Blick fest auf Lindseys gesenkten Kopf gerichtet. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Wenn irgendjemand Brees Dienste als Rechtsanwältin brauchte, dann war es die arme Lindsey.
    »Ab und zu mal ein Aufputschmittel«, sagte Lindsey schließlich und rieb sich hektisch die Nase. »Und manchmal auch ein Beruhigungsmittel. Aber nur von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher