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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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wurden rationiert, Max durfte machen, was er wollte. Und auch, dass Max immer zur Stelle war, wenn der Zufall Vater und Timi einmal allein in einen Raum steckte, auch dieses Wunder bekam durch das Geständnis des großen Bruders mit einem Mal einen Sinn: Max hatte ihn beschützt, die ganzen Jahre hindurch beschützt, vor dem eigenen Vater.
    Max spürte eine Hand auf seiner Schulter. Er wusste, ohne hinsehen zu müssen, wem sie gehörte. Das Mädchen, natürlich, unser liebes Mädchen. Es musste ihn trösten. Schämte es sich jetzt wenigstens für das eigene Glück? Schämten sie sich alle für ihre heilen Welten, ihre verlogenen Glückseligkeiten? Aber Max ahnte, dass sie sich wahrscheinlich mehr für ihren Freund schämten, einen, der den Arsch hinhielt und den Stiefvater mit diesem Arsch machen ließ, was dieser auch immer wollte. Aber jetzt war es wenigstens endlich raus, dachte Max, und er fühlte sich tatsächlich erleichtert, befreit. Die Tatsache, dass sein Geständnis niemals den Weg aus diesem Gefängnis hier finden würde, beruhigte ihn. Nicht auszudenken, Kasi oder Alex kämen frei und erzählten im Schulbus vom eben Gehörten! Er könnte sich sofort am nächsten Baum aufhängen, am besten in Bonndorf an der Kirchturmspitze, für jeden sichtbar und mit heruntergelassenen Hosen. Der Arsch ist tot. Endlich.
    Eine Straße würden sie wohl nie nach ihm benennen, wer wollte schon in der Max-Arschficker-Straße wohnen? Freiwillig keiner. Ein Kinderheim könnten sie dort höchstens errichten, dann wüssten die lieben Kleinen wenigstens vom ersten Tag an, was ihnen blühte. Aber Max-Spinnen-Allee – das klang gut! Ja, wiedergeboren würde er alles, was an diesen früheren Max erinnerte, tilgen. Er würde es einspinnen, verpacken und weghängen und alle, die zu diesem alten Leben einen Beitrag geleistet haben, mit dazu. Hierher würde er sie schleppen, vielleicht auch nach hinten in den Toilettenraum. Ein breites Grinsen verzerrte jetzt das Gesicht des Jungen zu einer Grimasse. Ja, genau über dem halb vollen Toilettenfass würde er ihn aufhängen und alle Spinnenheere sollten kommen und ihn quälen, mit Zangen, mit Beinen voller Widerhaken. Ja, wusste Max, das würde ein guter Moment sein, ein ehrlicher und ein gerechter Moment. Ein abschließender Moment!

    Kasi stand tatsächlich hinter Max und berührte diesen zum ersten Mal in seinem Leben freiwillig. Er hätte gern etwas gesagt, aber er wusste nicht was. Irgendwie schien ihm alles, was Worte sagen konnten, so platt, so unbedeutend gegenüber dem Leid des anderen. Sicher, Gott hätte trösten können, wenn man an Gott glaubte. Aber selbst mit diesem Glauben ausgestattet, konnte Kasi die Frage nach dem Warum nicht beantworten. Warum ließ Gott so etwas zu? Warum nur? Bald könnten sie ihn danach fragen, bald.
    Der Körper, den Kasi an der Schulter berührte, dieser Körper zitterte. Kasi schob dieses Zittern Max’ Aufregung zu, vielleicht hatte er auch etwas Angst, bestimmt sogar! Wie konnte man seine letzten Stunden verstreichen sehen, ohne Angst zu empfinden? Immer, wenn man etwas bewusst zum allerersten Mal tut, ist man aufgeregt, hat Angst oder wenigstens so etwas Ähnliches, wusste Kasi. Das erste Mal zur Schule gehen – Angst. Das erste Mal auf einem Fahrrad ohne Stützräder sitzen – Angst. Das erste Mal allein mit dem Zug fahren – ebenfalls Angst. Warum also sollte man ausgerechnet beim Sterben keine Angst empfinden, schließlich tat man auch dies zum allerersten Mal. Und zum letzten Mal – doppelt Grund, sich zu fürchten.
    Max schüttelte Kasis Hand ab. Den Bruchteil einer Sekunde kreuzten sich die Blicke der Kinder und Kasi erkannte, dass da mehr sein musste als nur Angst. Max’ Augäpfel zitterten. Kasi trat einen Schritt zurück. Er fror plötzlich, begann selbst zu zittern und spürte zum ersten Mal in seinem Leben den kaum zu bezwingenden Wunsch, loszuschreien, zu toben, davonzulaufen. Er hatte einem Verrückten in die Augen gesehen! Dieser Blick eben hatte nichts mehr mit dem Max von früher zu tun gehabt, weder mit dem ausdruckslosen Starren, welches immer so gut zu Max’ unbeweglicher Mimik gepasst hatte, noch mit der Gier und der Lust in seinen Augen, mit der er den von der Decke hängenden Kasi gequält hatte. Etwas in Max hatte sich verändert, erkannte Kasi, und es hatte sich nicht zum Guten verändert. Kasi fürchtete sich, aber nicht vor diesem Berg und dem Tod, sondern vor Max.
    Der kurze Augenblick des Erkennens ging

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