Apfeldiebe
vorüber. Max nahm eine Wasserflasche, trank zwei Schlucke und schüttete sich den Rest über den Kopf. Erst als Max’ Haare und seine Kleidung wie auf seine Haut gemalt an ihm klebten, wandte er erneut den Kopf. Seine Blicke irrten durch den Raum, sprangen von Ziel zu Ziel und blieben am Ende doch wieder an Kasimir hängen. Dieser trat instinktiv einen weiteren Schritt zurück. Das da, das waren nicht mehr die Augen eines normalen Kindes. Kasi starrte in Augen, die lachten, die schrien, die ihn packen wollten! Und tatsächlich gingen Max’ Gedanken in diesem Moment in ebendiese Richtung. Max sah das Opfer, das er durch den Berg gejagt hatte, das er gefunden und aufgehängt und beinahe auch gefressen hätte. Aber noch immer lief dieses Opfer frei umher, beschmutzte die Luft und Max’ Spinnenschulter und versuchte dabei so unschuldig und brav zu schauen, als sei es hier in der Endrunde zu »Tantchens Liebling«: Meine sehr verehrten Damen und Herren im Publikum, liebe Zuschauer daheim an den Geräten – hier sind unsere herzallerliebsten Finalisten: Alex, der Geschlagene, Timi, der Arschfickerbruder und last but not least Kasi, die heilige Grinsefresse, auch niedliches Schleimbeutelchen genannt. Einer nach dem anderen wird nun die Fragen der Jury beantworten und ihr Lieben, denkt daran: Es geht nicht um den Wahrheitsgehalt eurer Antworten, sondern darum, ob sie den Tantchen gefallen! Schleimt, was das Zeug hält! Pustet den alten Schachteln Zucker in den Allerwertesten, sie werden es euch danken. Lasst euch herzen und küssen, umarmen und zwischen schlaffen Brüsten ersticken – nur so habt ihr eine Chance!
Ja, wusste Max, das süße Mädchen würde den Wettkampf gewinnen. Aber was es nicht wusste – als Hauptpreis wartete kein goldenes Grinsehalsband erster Ordnung und auch kein Schatz und auch keine Belobigung vor der versammelten Schule; auf den Erstplatzierten wartete eine Umarmung, eine achtarmige Umarmung. Das Mädchen würde gewinnen und er, Max die Spinne, den Preis überreichen, ihn an sich drücken und wie vorhin auf dem Felsenbild beide Zangen um den stinkenden Hals legen und ganz langsam zudrücken.
Max klemmte beide Hände unter die Arme. Diese Hände, sie wollten unbedingt das Mädchen berühren, sehnten sich nach diesem, aber noch war die Zeit nicht gekommen, noch mussten sie warten. Noch ein bisschen, nur noch ein ganz kleines bisschen. Aber wenn es soweit war, würde er sich auf das Opfer stürzen, es beißen und lähmen, in ein Gewirr haarfeiner Fäden verpacken und unter die Decke hängen!
Max riss sich von der künftigen Beute los und drehte sich um. Aber auch da wieder ein Mädchen, ein Grinsemädchen aus Strichen und Linien! Widerlich!
33 Auf Burg Steinegg
Hassos Zunge beendete Seilers Nickerchen. Der öffnete die Augen und es dauerte einen Moment, bis er sich im Jetzt und Hier zurechtfand. Er identifizierte die Burg Steinegg, auch seinen Hund, glaubte sich zuerst aber nur ein paar Tage nach Kriegsende. Bis er sich an Dinge erinnerte, die, von der Warte dieser Tage aus gesehen, in einer Zukunft liegen mussten, bis er seine Hände sah – ein Ansammlung trockener Haut, Falten, grauer Haare, geplatzter Äderchen. Ein Wimpernschlag ließ fünfundsechzig Jahre verstreichen. Aber eine Zukunft, das wusste der wieder alte Mann, eine Zukunft gab es noch immer!
Von den eigenen Händen wanderte Seilers Blick zur Sonne. Nickerchen – von wegen; einen ausgewachsenen Nachmittagsschlaf hatten er und Hasso da hingelegt. Das Gestirn verschwand soeben hinter den Baumwipfeln und Seiler schätzte, dass jetzt ungefähr die Dame von der Tagesschau ihre Gruselmeldungen verlesen dürfte, bevor das Abendprogramm begann. Er schüttelte den Kopf – den ganzen langen Nachmittag verschlafen, so etwas war ihm noch nie passiert. Wenn er krank im Bett lag schon, aber das kam so selten vor, dass es nicht zählte. Fühlte er sich krank? Natürlich nicht, ganz im Gegenteil. Er stand auf und streckte sich. Von wegen krank. Er lebte!
Der lange Schlaf hatte ihm gutgetan, Rücken und dessen Verlängerung schmerzten kaum noch. Auch sonst fühlte er sich jünger, kräftiger – lebendiger. Was so ein kleiner Vorsatz – und ein Schläfchen – doch alles für Wunder bewirken konnten.
» Komm, wir müssen uns beeilen.« Seiler nahm die beiden Rucksäcke; ein letzter, wahrscheinlich der allerletzte Blick seines Lebens über diese Ruine. Er suchte und fand den kaum noch als solchen zu erkennenden Trampelpfad, der ihn
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