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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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ihm viel zu schön, um ihn einfach wegzuschlafen. Keiner wusste, dass er hier saß. Suchten sie jetzt auch schon nach ihm? Seiler lachte. Nein, bestimmt nicht. Keiner dürfte ihn vermissen und Suchtrupps in den Wald hetzen – einer der vielen Vorteile der Einsamkeit: man konnte tun und lassen, was man wollte.
    Erste Sterne blitzten und aus dem Tal kletterte angenehm kühle Luft die Hänge herauf. Obwohl es noch immer an die zwanzig Grad haben dürfte, legte Seiler sich die Decke über die Schultern.
    Was Mona-Lisa wohl in diesem Augenblick gerade tat? Dachte sie an ihn, ebenso wie er nur noch an sie denken konnte? Ahnte sie etwas von seinem Entschluss? Seiler verdrehte den Kopf nach einem Stern und stellte sich vor, dass auch sie in diesem Moment exakt zu diesem winzigen Lichtpunkt aufsah. Dieses Licht da spiegelte Seilers Blick zu ihr und Mona-Lisas zu ihm zurück. Wie oft hatte er sich dies in den zurückliegenden Jahrzehnten vorgestellt, wie oft sich gefragt, was sie wohl jetzt gerade machte. Seiler freute sich auf das Morgen und fürchtete sich auch davor. Lebte sie noch? Brachte sie gerade ihre Enkelkinder ins Bett? War sie gesund? Glücklich?
    Hasso sah seinem Herrchen nach. Dieses ging an die Mauer und urinierte tröpfchenweise. Früher, ging es Seiler durch den Kopf, ja früher hätte er in einem hohen Bogen und einem Bäume unterspülenden Strahl Ruhe für die anschließende Nacht geschaffen. Aber heute …
    » Was soll’s. In einer solchen Nacht kann ein alter Mann wie ich gerne ein paar Mal aufstehen. Oder Hasso, was meinst du dazu?«
    Nichts. Wie immer.

34 Über dem Abgrund

    Max schlief. Er lag zusammengekrümmt unmittelbar vor dem Ausgang in den Fässerraum. Timi, anfangs in den Armen des großen Bruders, hatte sich, als Max’ Atem ruhiger und gleichmäßiger wurde, aus diesen Armen befreit, war ein Stück zur Seite gerutscht und erst da – allein – hatte auch er endlich einschlafen können.
    Am Fuße der Schutthalde, halb liegend, halb sitzend, zählte Kasi Max’ Atemzüge. Steine und Geröll bildeten die Unterlage für Kasis Rücken, Regenjacke und die Reste seines Rucksacks formten eine nur unzureichende Matratze. Er spürte jeden einzelnen Stein, Kasimir aber registrierte diese Tatsache sowie die mit diesem Umstand einhergehenden Schmerzen nicht weiter. Er hatte sich diesen am weitesten von Max entfernten Platz gewählt, um nicht in dessen Nähe liegen zu müssen, trotzdem sorgte aber genau dieser Max jetzt dafür, dass Kasi keine Ruhe fand. Immer, wenn er die Augen schloss, tauchten Max’ Augen auf. Und diese Augen, so dachte jetzt Kasimir, während Gernot Seiler seinem Stern eine Kusshand zuwarf und sich Rufus’ Decke über den Kopf zog, diese Augen erschienen ihm gefährlicher als all die Felsen, das Gestein ihres Gefängnisses und selbst der Berg darüber. Kasimir hatte Angst. Er dachte an Max’ Augen, an dessen aufgerissenen Mund und beschützte instinktiv den verletzten Oberarm, eine Wunde, welche zwar schon seit Stunden nicht mehr so richtig schmerzte und die er kaum noch bewusst registrierte, die aber vorhin, beim kurzen Blick in Max’ Augen, plötzlich wieder angefangen hatte zu brennen. Jetzt pochte sie, als wolle sie den Besitzer dieser Wunde wecken, ihn warnen und zu einer Umkehr auffordern. Aber wohin umkehren?
    Max schnarchte. Ab und an stoppte dieses Schnarchen, als hätte Max das Atmen (endlich) eingestellt, aber gerade, wenn Kasimir diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht zu ziehen begann und sein Herz ein wenig schneller schlug, röchelte Max, legte seine Zunge wieder ordentlich in den Mund und alles begann von vorn. Kasimir zählte die Schnarcher und wusste inzwischen, dass Max ungefähr fünfzehn Mal schnarchte, bevor seine Zunge nach hinten fiel und für eine kurze Pause sorgte. Kasis Vater schnarchte ähnlich, jedenfalls wenn er auf dem Rücken lag und einmal hatte er seinem Sohn das mit der nach hinten fallenden Zunge erklärt und dass man daran ersticken konnte. Wie schön wäre es, dachte Kasimir und drückte mit dem Schulterblatt einen Stein zur Seite, wie schön wäre es, wenn das jetzt bei Max passieren würde. Ja, das wäre schön und wahrscheinlich auch richtig. Kasi dachte dies und entschuldigte sich nicht einmal dafür, im Gegenteil. Er wusste, dass Gott bestimmt ebenso dachte wie er, er wusste nur nicht, warum Gott diesen Gedanken dann noch keine Taten hatte folgen lassen. Vielleicht beim nächsten Mal, und Kasimir zählte wieder von vorn und wartete auf

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