Apfeldiebe
die Füße und dieser starrte mit offenem Mund auf den Lügner und das, was dieser ausgespuckt hatte.
» Nein! Du lügst!«, schrie er schließlich und hielt sich die Ohren zu.
» Ich lüge nicht!« Über Max’ Wangen liefen Tränen. Er sah auf, griff nach Timis Handgelenken und als habe er durch dieses erste Geständnis eine nur für ihn existierende Mauer durchbrochen, sprudelten die Worte nur so aus ihm hervor. Die Wahrheit sagen, endlich herausschreien, was keiner wissen soll! Aber die Wahrheit würde in diesem Berg bleiben, eingewoben in tonnenschwere Spinnwebengeflechte. Was interessierten noch die Ohren des Mädchens, was interessierte Alex’ Meinung?
» Vier oder fünf war ich, als ich es zum ersten Mal tun musste. Er hatte seine Hose geöffnet und gesagt, dass das alle Kinder machen müssen, sonst kommen sie nicht in den Himmel. Und ich hab es gemacht. Meine nassen Hände musste ich an einem besonderen Tuch abputzen und sollte ich jemals irgendwem von unserem kleinen Geheimnis berichten, würde er mir meine Hände abhacken! Kannst du dir das vorstellen, Timi? Dein toller Vater lässt es sich von mir besorgen und droht, mir meine Hände abzu …«
» Nein!« Timi liefen die Tränen in Sturzbächen übers Gesicht. Aus Mund und Nase tropfte Rotz. Er versuchte sich zu befreien, wollte sich gleichzeitig die Ohren zuhalten und mit beiden Fäusten auf Max einschlagen, der aber hielt den Bruder fest und redete immer weiter.
» Fast jeden Tag ging er mit mir runter in seine Werkstatt und er schloss hinter uns ab und setzte sich auf seinen Sessel und öffnete die Hose. Als du dann größer wurdest, hatte ich Angst, dass er mit dir das Gleiche macht, Timi, deshalb habe ich niemandem etwas erzählt! Deshalb habe ich immer zugesehen, dass du und er nie allein da unten in seiner Werkstatt seid! Ich habe es für dich getan, Timi, für dich!« Max zog seinen Bruder zu sich, wollte ihn umarmen, der aber wehrte sich. »Und dein Vater hat genau gewusst, wie sehr ich dich liebe und dass ich es niemals zulassen würde, dass dir etwas geschieht. Und jetzt erpresst er mich damit, er erpresst mich mit dir!« Timi schüttelte den Kopf, zum Schreien fehlte ihm die Kraft. »Er hat gesagt, ich muss es ihn nun richtig machen lassen, sonst macht er es mit dir und als ich nicht verstand, was er mit richtig meinte, hat er mir die Hosen runtergezogen, ich musste mich auf den Boden knien und dann, dann …«
… hat er dich in den Arsch gefickt , dachte Alex. Sofort biss er sich auf die Zunge.
Max stieß Timi zur Seite, nahm den Fackelstift, stürzte zu seinem Ebenbild und strich es mit zwei Strichen durch: Angst und Hass hießen die Striche, sie bildeten ein riesiges X, genau über Max und verwandelten sich vor seinen Augen in Scham und Wut , in Liebe und Tod .
» Es tut so weh«, sagte Max, jetzt viel leiser und mehr zu sich selbst. Er weinte und auch über Kasis Wangen liefen Tränen. »Es tut weh und es ist nicht richtig und Mama hat so getan, als ob es das nicht gäbe. Einmal hat sie am Fenster gestanden, als dein Vater das mit mir gemacht hat, gerade als er losschrie. Das tut er immer, wenn es so weit ist. Ich habe Mutters Gesicht ganz genau gesehen. Aber es ist verschwunden, einfach so. Sie hat mir an diesem Abend eine Tafel Schokolade mit ins Bett gegeben, aber sie hat nichts gesagt, KEIN EINZIGES VERDAMMTES WORT!« Die Spinne würde sich auch um sie kümmern, um Mutters verlogene Zunge, würde diese herausreißen und einweben. Ja, die Spinne würde alles rächen, alles wieder gutmachen, alles ungeschehen machen. Die Spinne.
Die Kraft aus Timis Beinen schwand, seine Knie knickten ein, als seien diese Gelenke einzig und allein zum Auf-den-Boden-Sinken geschaffen. Er wollte dies alles nicht hören, wollte es nicht, nannte den großen Bruder einen Lügner und wusste doch, dass dieser die Wahrheit sagte. Tausend Gedanken schossen dem Kind gleichzeitig durch den Kopf, Hunderte Bilder, die plötzlich einen Sinn erhielten: Vaters Lächeln, wenn er Max mit einer Kopfbewegung in die Werkstatt beorderte, ein Lächeln, welches sich so sehr vom üblichen Lächeln am Küchentisch unterschied. Max’ Gereiztheit, wenn er aus der Werkstatt zurückkam und dann nur noch allein sein wollte, stundenlang duschte und anschließend in seinem Zimmer verschwand, Chips und Schokolade in sich hineinstopfte und wie von Sinnen am Computer Monster abknallte. Timi durfte nie solche Spiele spielen, nie durfte er so fressen wie Max. Timis Süßigkeiten
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