Apfeldiebe
war das Seil, welches über seiner Schulter hing. Seit dem Umzug hatte es in der Garage an der Wand gehangen, als habe es von seiner Bestimmung gewusst und nur auf den heutigen Tag gewartet, den Tag, an dem sich diese Bestimmung erfüllen sollte. »Also, was ist? Gehen wir?«
» Ja«, rief Alex. Er bückte sich nach seinem Rucksack, zog die Kapuze in die Stirn. »Auch wenn der Wettergott unser Vorhaben bekämpft, werden wir heute Abend siegreich zurückkehren. Folgt mir.«
Das fünfköpfige Expeditionskorps marschierte im Gänsemarsch Richtung Steina, folgte der steil abfallenden Straße. Zu beiden Seiten ihres Weges begleitete Wald den Weg der Kinder und je weiter diese sich von ihrem Heimatdorf entfernten, desto steiler stieg rechts und links das Gelände an, unterbrochen nur von Rinnsalen, vom Regen der Nacht genährt. Alex ging selbstverständlich vorweg und in seinen Ohren verwandelte sich das Plätschern dieser Rinnsale in Fanfarenstöße, aus den sich über die Straße neigenden Tannen und Buchen wurden Standarten und im Wind flatternde Fahnen und Wimpel. Er freute sich auf das vor ihm liegende Abenteuer und es konnte ihm gar nicht schnell genug gehen. Aber er musste das Tempo immer wieder zügeln, meist wegen Max und Timi. Obwohl es kontinuierlich bergab ging, schwitzte sein Freund bereits, als habe er die vergangenen Stunden in einer Sauna verbracht. Der Schweiß rann in Strömen von seiner Stirn, vermischte sich mit Regentropfen und zeichnete dunkle Flecken auf das unter seiner offenen Regenjacke hervorleuchtende T-Shirt. Nur einmal fiel Max freiwillig in eine Art Trab und zwar, als aus dem Wald rechts von ihnen plötzlich ein Hund kläffte, zwar ziemlich weit entfernt, dennoch zu nah um es einfach zu ignorieren. »Das ist doch dem Seiler sein Köter«, sagte Max, dachte an den Apfelraub vom Vorabend und überholte Alex.
Tatsächlich durchstreifte der alte Mann – wie an jedem Morgen, so auch heute – bereits die Wälder auf der Suche nach Pilzen, Beeren, einem Armvoll Holz. Hasso bellte, Seiler kämpfte sich aus dem Unterholz und blickte in die Richtung, in die sein Hund blickte. Tief unter sich konnte er auf dem feuchten Asphaltband fünf Kinder erkennen, alle Kapuzen auf den Köpfen und mit Rucksäcken beladen.
» Was haben die hier zu suchen?« Wahrscheinlich Pfadfinder, vermutete der Alte, welches Kind trieb sich sonst bei solch einem Wetter freiwillig im Wald herum? Zum Glück gingen sie auf der Straße und nicht durch seinen Wald. Und zum Glück entfernten sie sich, ohne seine Beeren und seine Pilze zu stehlen. Er beobachtete die kleine Gruppe, bis sie hinter einer Biegung verschwand, Hasso verlor das Interesse und beschnüffelte den Stamm einer Buche. Er hinterließ seinen Anwesenheitsnachweis.
» Bist ganz ein Braver.« Der alte Mann tätschelte den Rücken seines Freundes, wischte sich Wassertropfen und Hundehaare am Hosenbein ab und wandte sich erneut den wirklich wichtigen Dingen seines Lebens zu.
Am Wanderparkplatz angekommen führte Alex sein Gefolge nach links. Rötlich schimmernder Kies ersetzte von nun an das Asphaltband. Rechts schlängelte sich die Steina, unschlüssig wie ein Kind vor einem Süßwarenautomaten. Mal bog das Flüsschen nach rechts ab, kurz darauf wählte es die entgegengesetzte Richtung. Einmal sprang es, in ein kaum zwei Meter breites Bett gepresst, über Steine und angespültes Holz, fünfzig Schritte weiter ruhte es sich von dieser Anstrengung in einer Feuchtwiese aus, machte sich breit und gaukelte dem Betrachter den unbeweglichen Spiegel eines Teiches vor. Ein Reiher äugte nach der sich nähernden Schar, stieß sich ab und segelte einem stilleren Plätzchen entgegen, ohne dass auch nur einer der Störenfriede Notiz von ihm genommen hätte.
Obwohl Alex die kleine Gruppe immer wieder zur Eile antrieb, brauchten sie seiner Empfindung nach doch eine halbe Ewigkeit, bis sie zuerst links über sich den Turm der Ruine Steinegg und nur ein paar Schritte weiter die beiden Finger der Roggenbacher Burg zwischen den Tannen aufragen sahen.
» Jetzt bewegt euch doch endlich mal!« Alex wollte so schnell wie möglich in dem am Vortag entdeckten Loch verschwinden. Er traute seiner kleinen Schwester nicht. Klar, er hatte wirklich alles an Drohungen aufgeboten, was ihm eingefallen war – aber reichte das auch? Wer wusste schon, was in so einem Lenikopf vorging, was sie dachte und warum. Und wer wusste schon, was am Ende dieses Denkens dann dabei herauskam. Und selbst,
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