Apfeldiebe
ungeschehen zu machen oder ihn wenigstens ganz schnell vorbeigehen zu lassen. Max hatte schon so oft spüren müssen, was Kasi jetzt spürte. Aber heute hatte der Zufall ihm die Macht in die Hände gelegt, Rufus, Alex und Timi weggelockt und das Kasi-Mädchen an die Decke gehängt und Max’ Denken hatte sich längst von Gut und Böse, von richtig und falsch befreit; er folgte nur noch einem erwachten Tier in ihm. Die Haut auf Kasis Bauch zitterte und obwohl der Junge die Muskelstränge darunter aufs Äußerste gespannt hielt, fühlte sie sich weich und verletzlich an.
Max beugte sich vor. Kasi roch nach Angst. Max wusste gar nicht, dass man Angst riechen konnte. Roch er selbst auch so, wenn er es über sich ergehen ließ? Ja, früher vielleicht schon, heute hielt sich seine Angst dabei in Grenzen, wusste er doch, was kam und wie es endete. Dass es endete. Kasi wusste dies nicht und mit Sicherheit empfand er diesen Augenblick jetzt als den wirklichsten Moment seines Lebens. Todesangst schärfte die Sinne. Todesangst gebar Wahrheit und Erkennen. Todesangst hieß die einzige Wahrheit im Leben, Max wusste Bescheid. Beim allerersten Mal, da gab es noch Todesangst, danach nie wieder. Aber dieses allererste Mal hatte sich in seinen Geist gefressen, würde ihn den Rest seines Lebens wie ein Brandzeichen begleiten und immer an dieses erste Mal erinnern. Max roch an Kasis Körper und wusste plötzlich, dass es nun an ihm war, diesem Mädchen einen solchen Moment der Wahrheit zu schenken, etwas Unvergessliches, ein von einem dunklen Gott erdachtes und von dessen Werkzeug – Max – verwirklichtes Moment, stark genug, ein ganzes Leben zu verändern. Eine Sinfonie der Angst.
Max’ Nase berührte Kasimirs Hals, die Achselhöhle, roch über einen warmen, weichen Arm. Plötzlich riss Max den Mund auf und biss zu. Es war sein Arm, dünner vielleicht, aber an seinem Arm spannten sich ebenso die Sehnen und Muskeln, wenn er … SEIN Arm! Ja, dies war sein Arm. Aber heute besaß dieser Arm keine Macht, heute hieß der Stärkere Maximilian! Kasimir quiekte, der Stoff dämpfte seine Schreie.
Max hatte es sich nicht vorgenommen, nichts geplant, es überkam ihn und er spürte unschuldige Haut ( seine Haut) zwischen seinen Zähnen ihre Unschuld verlieren, schmeckte Kasis Blut ( sein Blut). Er schrie. Ja, dieser Moment jetzt besaß soviel Wirklichkeit und Wahrheit, dass es für mehrere Leben gereicht hätte, es reichte für Kasimir und für ihn. Dieses Jetzt atmete Leben und Macht und Wahrheit und es sollte niemals mehr ein Ende finden. Es gab kein Danach, es gab nur noch das Jetzt und dieses Jetzt schmeckte warm und süß und fremd. Max’ Kiefer schmerzten – ein Schmerz, der an dem Jungen vorüberzog. Max spürte, dass er lebte. Und er spürte das Zappeln des Mädchens. Er spürte seine Angst.
Kein Tod kann so schön sein, dass man darüber vergisst.
Dieser Satz steckte von jetzt auf gleich in Rufus’ Kopf, so als hätte ihn jemand von außerhalb da Wort für Wort hineingelegt, die Worte hin und her geschoben, bis sie sich in der richtigen Reihenfolge befanden und anschließend dem Kind von innen gegen die Stirn geklopft und es so zum Denken dieses Satzes aufgefordert. Kein Tod kann so schön sein, dass man darüber vergisst – der Satz hätte von Mutter stammen können. Ja, dachte Rufus, von Mutter, obwohl sie doch selbst über ihrer Sehnsucht alles um sich herum vergessen hatte. Er sollte es nicht?
Rufus befand sich noch höchstens einhundert Meter vom Wanderparkplatz und damit der Straße entfernt. Er konnte hin und wieder Fahrzeuge hören, Motorräder, welche die gewundene Straße als Rennstrecke missbrauchten.
Kein Tod.
Rufus blieb stehen. Sicher, der Kleine ging ihn ziemlich wenig an, genau genommen gar nichts. Andererseits hatte sie das Spiel heute zusammengebracht, zwar nur für ein paar Stunden, trotzdem aber zusammen. Auf der einen Seite Alex und Max, auf der anderen Kasimir und er – eine herzlich unfaire Konstellation. Und während er selbst jetzt die Sonne genießen durfte und fast schon die Hälfte des Heimweges hinter sich hatte, saß der andere Teil seiner Partei – oder wie auch immer man das, was er und Kasimir darstellten, nennen mochte – allein im Dunkeln. Rufus ahnte, nein er wusste, dass Alex seinen Frust über Rufus’ Entkommen an Kasimir auslassen würde. Warum schafft es einer zu fliehen, der andere aber nicht? Rufus wusste es nicht. Dumme Frage. Warum erlebt einer seinen hundertsten Geburtstag,
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