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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Finger sahen für ihn.
    Er sah nichts, spürte aber angespannte Sehnen und die kleine Pfeilspitze unter dünner Haut. Max konnte mit den Fingerspitzen sehen, besser als jedes Auge. Niemand sah sie jetzt, nicht einmal sie selbst. Niemand!
    Macht. Fünf winzige Buchstaben nur, allerdings in der richtigen Reihenfolge angeordnet ein Wort, das ganze Welten verändern konnte. Max registrierte erstaunt die eigene Erregung, sein Atem ging schnell und schien genauso zu zittern wie seine Hände. Fühlte es sich so für seinen Stiefvater an? Empfand dies hier der Lehrer, wenn er seine Macht auskostete, Max zur Tafel rief und ihm eine Aufgabe stellte, bei der er doch von Vornherein schon wissen musste, dass Max sie nie und nimmer korrekt ausführen konnte? Es fühlte sich gut an, viel besser als die Minuten auf dem Heuboden. Warum? Max vermutete, dass es am Objekt lag. Eine Katze fühlt sich zwar genauso lebendig an wie dieses von der Decke baumelnde Mädchen hier, ist aber eben doch nur eine Katze, ein Ding, das keiner vermisst, ein Tier, viele Stufen unter ihm selbst angesiedelt. Bei Kasimir aber handelte es sich um einen Jungen und während Max’ Finger über fremde Haut zitterten, wusste er genau, was jetzt, in diesem Augenblick, im Kopf des Anderen vorgehen musste – Wissen, welches den Wert dieses Momentes ins Unfassbare steigerte. Es tat so gut, einmal auf der anderen Seite stehen zu dürfen, mächtig zu sein.
    Max’ Finger wanderten über Kasimirs nackte Arme, über Bauch und Brust des Kindes bis zur verschluckten Pfeilspitze in dessen Hals. Nur er und der Gefangene, sonst nichts. Kein Erwachsener, der ihm die Macht aus den Händen riss, er konnte tun und lassen was er wollte, ein Herr über Leben …
    … und Tod.
    Schauer jagten über Max’ Rücken, seine Hand legte sich um einen schlanken, von jedem Schutz befreiten Hals. Max drückte zu.
    Kasi riss den Kopf nach oben, es arbeitete unter Max’ Fingern und die Geräusche, die der T-Shirt-Knebel in Kasis Mund gestattete, erinnerten Max an gurgelndes Wasser, an einen Strudel, der alles mit sich in eine niemals endende Tiefe zerrte. Ja, so fühlt es sich an, genau so fühlt sich Angst an, so fühlt sich Macht an. Max genoss es. Er kannte dieses Gefühl auf der anderen Seite nur zu gut, aber endlich einmal der Angstmachende zu sein, Macht über einen Menschen zu besitzen … Die Herzen der beiden Kinder hämmerten, Max hielt mit der freien Hand das sich windende Etwas fest und drückte mit der anderen Hand weiter zu. Das Ding da wollte atmen und konnte es nicht, wollte fliehen, um Hilfe rufen. Was half dem hellen Köpfchen nun all sein neunmalkluges Wissen, was seine Belobigungen? Was sein lieber Gott? Wo waren jetzt Mama und Papa und der liebe Gott der glücklichen Familie?
    » Keiner da«, flüsterte Max. »Keiner da.« Er lockerte seinen Griff und Kasi sog Luft durch den in seinem Mund steckenden Stoff. Wie ein menschlicher Handstaubsauger , dachte Max und streichelte dabei einen dünnen Hals. Hustete Kasi jetzt? Störte ihn der Stoff zwischen seinen Zähnen? Es klang danach und Max lauschte wie andere Menschen einer Sinfonie lauschen. Aber in gewisser Hinsicht war dies wirklich eine Sinfonie und Max komponierte sie. Und Kasimir das einzige Instrument in den Händen des Maestros. Drei, nein vier hastige, tiefe Atemzüge ließ dieser Meister seinem Opfer, dann mussten die Finger erneut zudrücken, fester diesmal, auch etwas länger und Max spürte die Erregung seine Hose erreichen. Nein, du sollst nicht sterben, ich werde dich nicht töten. Aber du sollst dich fürchten, so wie ich mich fürchte, du sollst weinen, so wie ich weine. Und wieder ließ er Luft in sein Opfer strömen, allerdings nicht mehr als dieses unbedingt benötigte.
    Max dachte nicht mehr, er tat nur noch und obwohl er wusste, dass diese Situation hier nicht Wirklichkeit sein sollte, verhalf er ihr doch zu einer Existenz. Kasi wehrte sich, versuchte es jedenfalls, wie sich das kleine Kätzchen gewehrt hatte, wie Max selbst sich am Anfang einmal widersetzt hatte. Aber dieser eigene Widerstand lag inzwischen Jahre zurück und Max hatte sich bis zu diesem Augenblick jetzt eine Ewigkeit nicht mehr daran erinnert. Nun aber, da sich Kasis nackter Bauch anspannte, während Max’ Fingerspitzen in verlogener Gleichgültigkeit darüber hinwegfuhren, jetzt spürte er es wieder: die Angst, den alles beherrschenden Gedanken Angst . Sicher würde Kasi jetzt alles in der Welt geben, nur um diesen Augenblick

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