Apfeldiebe
ein anderer stirbt nach dem ersten Atemzug? Unwichtig alles, unwichtig. Hauptsache, man begann dieses andere Leben irgendwann und Hauptsache, man verbrachte die Zeit bis zu dieser neuen Geburt so, dass man sich später dafür nicht schämen musste. Aber genau diese Überlegung hatte Rufus’ Füße angehalten. Sich schämen.
Rufus wusste, dass er Kasimir im Stich gelassen hatte, dass er, wenn er denn schon nur noch wenige Schritte vom Parkplatz entfernt im Wald stand, nicht allein hier stehen sollte und im Umkehrschluss Kasimir, wenn er noch unter der Ruine festsaß, dort nicht allein sitzen sollte.
Aber es spielte doch keine Rolle, es war so unwichtig wie nur irgendwas.
Was würde Mutter dazu sagen?
Rufus brach den soeben begonnenen Schritt ab und blieb erneut stehen. Er sollte zurück! Er wollte es nicht, wusste aber, dass er es musste. Egal, wie sinnlos alles auch erscheinen mochte, niemand durfte weglaufen und einen Freund (?) allein in einer Notlage zurücklassen.
Aber sie würden nur noch zwei, drei Stunden spielen, Kasimir vielleicht fesseln und auslachen und am Spätnachmittag die Ruine Richtung gedeckte Tische verlassen. Es war nur ein Spiel und vielleicht gefiel es Kasimir sogar. Sie würden sich krummlachen, wenn er zurückkehrte, sie würden ihn auslachen, alle zusammen.
Er hatte Leon gehen lassen und das nur, weil ihm das ferngesteuerte Auto wichtiger war als das Wissen, dass sein Bruder etwas im Schilde führte. Immer wieder musste Rufus an diesen Tag zurückdenken und immer wieder fragte er sich, wie das Leben weitergegangen wäre, hätte er damals auf die Stimme in seinem Innern gehört. Hätte er Leon verfolgt, könnte der vielleicht noch leben. Und wäre Leon noch am Leben, hätte die Trauer Mutter nicht aufgefressen. Rufus wollte diese Gedanken nicht zu einem Ende denken. Scham.
Schuld.
Rufus schaltete sein Handy aus, verstaute es zusammen mit den Ohrstöpseln im Rucksack und versteckte diesen hinter einem Holzstoß am Wegrand. Ein letztes Mal hörte er in sich hinein, dann rannte er den soeben gegangenen Weg zurück. Manchmal weiß man eben, dass eine Sache richtig ist, manchmal, dass man gerade das Falscheste vom Falschen tut und selbst, wenn man sich tausendmal alle für dieses Wissen sprechende Argumente vorbetet, ändert das schlussendlich doch nichts an der Tatsache, trotzdem etwas Falsches zu tun. Manchmal tut man einfach, egal was die Welt, egal was der eigene Kopf auch dagegen einzuwenden hat. Außerdem rannte er nicht wegen Kasimir zurück, auch nicht wegen Mutter oder Leon. Rufus’ Jacke und das Seil lagen noch immer da unten. Rufus rannte, obwohl er wusste, dass er gegen Alex und sein Gefolge keine Chance hatte. Er rannte und fühlte sich gut dabei. Mutter, wusste er, würde inzwischen von der Sache mit Leons Spielzeugauto wissen und sie beobachtete ihn seitdem sicher. Auch eine tote Mutter bleibt eine Mutter, die ihrem Kind hinterhersieht, die alles wissen will, all das, was das Kind tut und auch die ungetanen Dinge. Eine Mutter eben. Rufus wollte sie stolz machen.
An der Wegbiegung, die einen ersten Blick auf die zweifingrige Ruine gestattete, blieb Rufus stehen und versteckte sich hinter einem Baum. Von da aus beobachtete er eine Minute die Burg. Nichts bewegte sich, niemand hielt auf dem Wendeltreppenturm nach ihm Ausschau.
Gebückt überquerte er die von oben einsehbare offene Fläche und erreichte den Anfang des Lindwurmweges hinauf zu den Mauerresten. Rufus rannte jetzt nicht mehr, er ging langsam, achtete auf jedes Geräusch, versuchte selbst so geräuschlos wie nur irgend möglich auf die Anhöhe zu gelangen. Ein Eichelhäher entdeckte den schwarz gekleideten Eindringling, flog auf, kreischte und schimpfte, landete sieben Bäume weiter und beobachtete jetzt von da aus. Und beschimpfte das Kind.
Steht jemand da oben, der den Vogel hört? Steht jemand da oben, der hört und versteht ? Rufus wartete, lauschte. Er hatte die äußere Mauer erreicht, duckte sich in deren Schatten. Über ihm schien alles ruhig und verlassen. Nirgends ein Gesicht, niemand schrie, kein Stein flog heran.
Als er loskletterte, besaß er keinen Plan, wusste nicht, wie die anstehenden Minuten verlaufen sollten, er wusste nur, dass er das Richtige tat. Seine Hand erreichte die Mauerkrone, er zog sich an den Fingerspitzen die letzten Zentimeter nach oben und – erstarrte mitten in der Bewegung. Keine vier Meter von ihm entfernt stand Alex mit dem Rücken zu ihm und streckte sich …
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