Apfeldiebe
du hier zu suchen?!« Alex setzte seinen Helm auf, nahm das an einem Stein lehnende Schwert und versuchte so ritterlich wie möglich zu schauen. Aber Timi beeindruckte das wenig. Er blinzelte nur und beschattete die Augen mit der Hand.
» Ich wollte kurz mal raus. Unten ist es so kalt.« Alex nickte, nahm Timis Hand und half ihm die letzten Zentimeter aus dem Loch. Timi streckte sich und betrachtete die ihn umgebende Welt, als würde er sie in diesem Augenblick zum allerersten Mal erfahren.
Er ließ sich in das vom Morgenregen noch feuchte Gras fallen und blinzelte in die Sonne. Dabei hielt er sich eine Hand vors Gesicht und ließ die Sonnenstrahlen zwischen den Fingern hindurchwandern. Auf den Ästen und Zweigen und Blättern der Bäume, die sich über dem Kopf des Kindes wie zu einem Kirchenschiff vereinten, glitzerten unzählige Sonnen und blendeten Timi, ihm aber machten weder die kleinen Sonnen noch das nasse Gras etwas aus, ganz im Gegenteil. Nach den trockenen und dunklen Stunden im Gewölbe unterhalb der Roggenbacher Ruine erschien ihm dieser Moment jetzt fast wie ein Erwachen. Zum allerersten Mal in seinem Leben nahm er dieses Leben bewusst wahr und hätte ihm jetzt ein allwissender Beobachter auf die Schulter getippt und ein baldiges Ende dieses Glückes in Aussicht gestellt, hätte Timi diesem wahrscheinlich einen Vogel gezeigt. Selbst einem erwachsenen Beobachter. Timi fühlte sich wohl.
Vor einer Handvoll Wochen erst hatte er seinen achten Geburtstag gefeiert und diesem Umstand verdankte er wohl auch sein Hiersein, vermutete er. Ein richtiges Abenteuer und er mitten drin!
Timi genoss die Sonne und ahnte nicht, dass seine kleine heile Welt an diesem Tag noch untergehen sollte. Und nicht nur seine Welt. Aber auf solch einen Augenblick hatte weder ihn noch die anderen Kinder irgendjemand vorbereitet; kein »Kleine-Welt-Untergangskurs« in Kindergarten oder Schule, keine Ratgebersendung im Kinderkanal, kein Großvater, der seinen Enkelsohn zur Seite nahm und diesem die Sache mit der heilen Welt , ihrem wackligen Fundament und dem Herausziehen eines einzigen Steinchens erklärte. Nichts. Trotzdem kam es so und als Timi seine Rechte ins Gras fallen ließ und stattdessen die linke Hand zwischen Gesicht und Sonnen hielt, ahnte er nicht, dass der Untergangsbeauftragte gerade neben ihm saß, ebenfalls fünf Finger nach oben hielt, wie Timi einen nach dem anderen einknickte und dabei rückwärts zählte.
FÜNF .
» Alex?« Timi nahm die Hand vom Gesicht und setzte sich auf. Alex stand nur wenige Meter entfernt an eine Tanne gelehnt und fuhr mit dem Daumen über die Klinge seines Schwertes.
» Was ist?« Alex sah herüber. Gesicht und T-Shirt des Dreizehnjährigen waren von einer dünnen Staubschicht überzogen und in den zum Himmel weisenden Haaren hingen Spinnweben. Irgendwie, fand Timi, als er den Großen betrachtete, irgendwie sah Alex selbst aus, als habe man ihn gerade erst unter der Ruine entdeckt.
» Müssen wir wieder da runter?«, fragte Timi und blickte zu dem Loch, aus dem er erst vor wenigen Minuten herausgeklettert war.
VIER .
» Wollen wir hier weiterspielen?« Auch Alex’ Lust, erneut in den Berg zu klettern, hatte mit jedem wärmenden Sonnenstrahl abgenommen und erreichte gerade ihren Nullpunkt. Er vermutete, dass Kasimir inzwischen Hände und Füße ziemlich schmerzen dürften, immerhin spielte der nun schon fast eine Stunde den Gefangenen und hing da unten von Max bewacht an der Decke. Man könnte Kasi auf den Burghof bringen und ihn hier weiterverhören oder auch ein kleines Turnier ausfechten. Ja, ein Turnier! Jeder gegen jeden und er selbst erhielte am Ende den dem Sieger zustehenden Lorbeerkranz, denn dass Max, Timi und erst recht Kasimir keine Chance gegen ihn hätten, stand für Alex von vornherein fest. Weit weniger sicher schien ihm allerdings, ob Kasi nach einer Stunde an der Decke noch Lust auf eine Fortsetzung des Spieles verspürte. Alex hoffte, dass er, indem sie Kasi einfach in ihren Bund der Roggenbacher Ritter aufnähmen, dies ändern könnte. Aber wie immer sich der Kleine auch entscheiden sollte, es war Zeit, ihn von seinem Haken zu nehmen. »Was meinst du? Spielen wir hier weiter?«
» Holst du unsere Rucksäcke?«, antwortete Timi mit einer Gegenfrage. Alex nickte. Er streckte sich, setzte sich vor die Öffnung und rutschte mit den Füßen voran und seinem Schwert in der Hand nach unten. Dunkelheit empfing ihn, eine Dunkelheit, die ihn nicht mehr loslassen
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