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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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hatte er bereits vor einem guten Dutzend Jahren aufgegeben, sie fielen ja trotzdem aus. Heute besaß er noch genau sieben Stück von ihnen und so, wie einer von ihnen wackelte, dürfte es bald nur noch sechs geben. Offensichtlich gehörte auch dies zu Gottes Lockplan in sein Himmelreich. Der große Chef da oben machte es seinen Geschöpfen wirklich leicht, dies Leben auf Erden zu verlassen.
    Seiler schüttete eine Handvoll Haferflocken in einen Teller, gab Milch und Zucker dazu und füllte den Rest bis zum Rand mit heißem Wasser auf. Natürlich hätte er lieber heiße Milch genommen, die aber konnte man mit dem Tauchsieder nicht erhitzen, gab ’ne riesige Schweinerei. Und wegen einem einzigen Töpfchen Milch den Herd anheizen? Seiler schüttelte den Kopf und setzte sich, Hasso hatte sich bereits unter dem Tisch zusammengerollt.
    » Meine Mona-Lisa stand plötzlich am Gatter, legte die Arme oben auf die Stange und sah mir bei der Arbeit zu. Einfach so.« Hasso wusste Bescheid.
    Seiler tunkte ein Stück Brot in das Haferflocken-Wasser-Milch-Gemisch und steckte es sich in den Mund. Mona-Lisa – so hatte er sie beinahe vom ersten Tag an genannt, vielleicht weil ein aus einer Illustrierten herausgerissenes Bild des Originales damals als einziges Schmuckstück in der Stube gehangen hatte, vielleicht aber auch, weil dieses Mädchen, fast noch ein Kind, den bei dieser ersten Begegnung gerade Zweiundzwanzigjährigen tatsächlich an Mona-Lisa erinnert hatte. Oder wegen ihres Blickes – er wusste es nicht mehr und es spielte auch keine Rolle. Warum und Wieso und Weshalb – am Ende zählte nur das, was dabei herauskam und bei Mona-Lisa hieß dieses Ergebnis eben Mona-Lisa . Fertig.
    Die in diesen Junitagen gerade Siebzehnjährige stammte aus einem Nachbardorf, Bettmaringen und hatte in Wittlekofen irgendetwas abgeliefert, Seiler hatte vergessen was.
    » Wie lange sie da so stand und mich beobachtet hat?« Hasso öffnete ein Auge. »Sie sagte nur ganz kurz , aber ich weiß nicht.«
    Mona-Lisa war, von diesem ersten Zusammentreffen an, jeden Sonntag herübergekommen, eine Stunde hin und eine weitere zurück und das nicht, um etwas im Dorf abzuliefern, sondern einzig und allein, um ihn zu besuchen. Beide hatten nur einen einzigen Blick benötigt, um sich ineinander zu verlieben, es brauchte aber Monate, bis dieser Mann, der kaum ein Wort sprach, selten lächelte und dessen Körper bei der Arbeit niemals müde werden wollte, dem Mädchen vertraute.
    » Nein, sie gehörte nicht zu denen, die über mich lachten.« Seiler schüttelte den Kopf, sah zum Fenster hinaus und verrückte den Stuhl so, dass die Morgensonne auf seinen steifen Rücken schien. »Sie war etwas ganz Besonderes, weißt du?« Hasso wusste es. »Oh, wie ihre dunklen Augen geleuchtet haben, wenn sie sich über etwas aufgeregt hat! Dann konnte einem angst und bange werden. Wirklich. Aber auch so hatte sie die schönsten Augen auf der ganzen großen Welt, wie zwei … wie zwei Kohlenstücke, weißt du. Warme Augen, egal was sie gerade sagte oder dachte, ihre Augen blieben ganz warm.« Seiler stellte den fast leeren Teller unter den Tisch und Hasso übernahm im Liegen die Aufgabe des Spülens, während Seiler die Teeblätter aus seiner Tasse fischte und zum Fenster hinauswarf.
    Ihre erste Umarmung spürte er noch heute, als hätte diese gerade eben erst stattgefunden. Er wusste noch genau, wo ihn ihre Hand und wo er sie berührte, an einem Sonntag im Advent. Erster Schnee lag an diesem Tag auf dem Land, zu wenig, um etwas Sinnvolles damit anfangen zu können, zu viel für einen normalen Fußmarsch herüber. Aber sie war trotzdem gekommen, unter dem Arm eine Dose randvoll mit herrlich duftenden Plätzchen, von ihr gebacken. Lebkuchenherzen, dick mit Zuckerguss verziert und kleine Taler, in die sie so viel Kirschschnaps gemischt hatte, dass einem trotz der Süße der Rachen brannte. Beim Abschied, hier in genau diesem engen Flur, hatte sie zum ersten Mal ihre Arme um seinen Hals geschlungen, ihr Gesicht in seinem Wollpullover vergraben und nicht mehr losgelassen.
    Die große Angst, auch von Mona-Lisa verlassen zu werden, hatte seine Arme festgehalten, an ihnen gezogen und gezerrt wie zwei riesige Gewichte. Alle hatten ihn verlassen: Vater, der kleine Bruder, Mutter. Sogar Herr von Arnstorff, nachdem er seine Pflichten erfüllt hatte. Auch Mona-Lisa würde gehen. Trotzdem hatte er die Gewichte besiegt und sie an den Hüften berührt und dieser Stromstoß kitzelte auch

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