betete, zogen die Jahrhunderte an mir vorbei, und ich war Teil von allem. Dieses Amulett, Peter, ist ein Gedächtnis. Es speichert alles, was je mit ihm geschehen ist. Ich weiß, das klingt verrückt, aber es gibt Physiker und Biologen, die so etwas in der Art tatsächlich postulieren. Sie gehen davon aus, dass alle Dinge in der Welt eine Art Feld um sich herum verbreiten, über das sie mit ähnlichen Dingen kommunizieren. Über diese morphogenetischen Felder werden, so nehmen einige Wissenschaftler an, Form-Informationen übertragen. Und zwar unabhängig von Raum und Zeit.«
»Das klingt nach Hokuspokus, Maria!«, unterbrach Peter sie. »Warum bemühst du auf einmal die Naturwissenschaften? Warum bleibst du nicht bei Gott und sagst, dass das Amulett eine Art Kommunikator zu Gott ist?«
»Weil es das nicht ist, zum Henker!«, fauchte sie ihn an. »Um mit Gott in Kontakt zu treten, brauche ich kein Amulett. Nimm mich ernst, verdammt noch mal! Dieses Amulett tut etwas. Es ist eine Art … Gerät . Ich weiß nicht wie es funktioniert, aber man kann es benutzen. Ich kann es benutzen. Ich habe es vorgestern noch einmal probiert, mit dem gleichen Ergebnis. Es ist ein Gedächtnis. Es ist wunderbar und schrecklich zugleich. Und es enthält ein furchtbares Geheimnis.«
»Welches?«
Maria schüttelte den Kopf. »Es war alles so verwirrend. Aber vor allem habe ich eines gesehen …«
Sie zögerte wieder, als bereite ihr das, was sie zu sagen hatte, geradezu körperliche Schmerzen.
»Was?« hakte Peter nach.
»Das Böse«, flüsterte Maria. Sie wirkte erschüttert. Peter setzte sich zu ihr und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht.
»Erzähl mir, was du gesehen hast.«
Maria schüttelte heftig den Kopf. »Nein, ich erzähle dir, was ich nicht gesehen habe. Ich habe Gott nicht gesehen.« Sie weinte jetzt. Zitterte am ganzen Körper und schrie es fast aus vor lauter Verzweiflung. »Gott war nicht da! Er war nie da.«
Peter nahm Maria in den Arm, hielt sie fest. Ganz fest.
»Schschsch. Ganz ruhig. Du irrst dich. Das klingt vielleicht komisch aus meinen Mund, aber ich glaube, Gott war da, irgendwo, die ganze Zeit. Du hast ihn nur nicht erkannt.«
Maria sah ihn an. »Das klingt überhaupt nicht komisch.«
Er hielt sie im Arm, ganz nah. Durch den Stoff des Pyjamas hindurch spürte er, wie weich sie war. Wie warm und wie nah, ganz nah. Er konnte sie riechen. Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, legte ein Ohr frei. Sie ließ es geschehen, weinte jetzt auch nicht mehr, rückte aber auch nicht ab. Peter küsste das Ohr, dieses wunderbar kleine, zart beflaumte Ohr, küsste es, so sanft er konnte. Ein Schauder lief durch Marias Körper, aber sie rückte immer noch nicht von ihm ab. Im Gegenteil. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu – und erwiderte jetzt seinen Kuss. Ohne Scheu, drängend und leidenschaftlich tranken sie voneinander wie Verdurstende. Mit einem kleinen Laut griff sie in seine Haare, ließ seinen Mund nicht los. Wortlos und in großer Eile zogen sie sich gegenseitig aus. Maria umschlang ihn mit Armen und Beinen, presste ihn an sich, und hörte nicht auf ihn zu küssen. Nie mehr.
Er spürte sie, roch sie, schmeckte sie, hörte ihre kleinen Laute, die zeigten, dass sie noch da war, ganz da, während er nicht aufhörte, sie zu streicheln, und weiche Stellen an ihr entdeckte, das tiefe Grübchen am Halsansatz, die Kniekehlen, die Innenseite ihrer Arme. Sie hielt den Atem an, als er langsam in sie eindrang. Ohne Eile bewegten sie sich, bis sie einen gemeinsamen Rhythmus fanden. Sie flüsterte etwas. Seinen Namen.
»Was?«
»Beweg dich nicht.«
»Warum?«
»Einfach so.«
So lagen sie. Ewig. Regungslos. Ihre Pulsschläge vermischten sich. Bis sie ihre Bewegungen wieder aufnahmen und nicht mehr aufhörten, bis sie die Augen schloss und sich auf einmal zurückkrümmte, bis ihr Keuchen in einen lauten Seufzer überging, einen tiefen, kehligen Seufzer, in dem das Leben und die Lust der ganzen Menschheit lag, bis er fortgerissen wurde, weit, weit fort aus dem Universum heraus und er sich voll und leer zugleich fühlte und alles klar wurde und er für eine Sekunde die Antwort kannte, in diesem einen Augenblick, als sie beide gemeinsam laut aufstöhnten und die Welt den Atem anhielt.
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Von:
[email protected] An:
[email protected] 16. Mai 2011 12:03:11 GMT+01:00
Betr.: Treffen
Lieber Chaim Kaplan,
ich bin in Jerusalem. Leider erreiche ich Sie nicht. Bitte rufen Sie mich an, ich brauche