Apocalyptica
gefährlich ins Schwanken geriet. Die zahlreichen umstehenden Reisenden schienen keinen Anteil an der Pein der Frau zu nehmen oder dem Mädchen zu Hilfe eilen zu wollen, was Lâles Zorn nur noch steigerte. Schließlich gelang es ihr, eine Hand loszureißen und damit nach dem Gesicht des Wanderers zu schlagen.
„Freier Wille!“, schrie die zur Furie gewordene Frau und donnerte ihre Faust ins Gesicht des bärtigen Engels, dessen Kopf die schiere Wucht ihres Hiebes herumriss. Endlich war sie frei und überbrückte mit einigen wenigen Sätzen die Distanz zwischen sich und Schawâ, die inzwischen einen Großteil der Brücke auf dem Geländer hinter sich gebracht hatte. Fast hätte das Mädchen im letzten Augenblick das Gleichgewicht verloren, als seine Mutter herbeigeschossen kam, um es in einer fließenden Bewegung von der Brüstung zu pflücken wie einen reifen Apfel. Schwer atmend und ihr Kind, das von all dem Aufruhr nichts mitbekommen hatte, fest in ihre Arme pressend, taxierte sie ihre Reisegefährten wie eine in die Enge getriebene Ratte. Sprungbereit und brandgefährlich.
Zum ersten Mal erkannte Lâle in den Augen des Wanderers so etwas wie eine Gefühlsregung. Es war wohl Zorn, und der Gedanke daran, dass er endlich so etwas wie Menschlichkeit an den Tag legte, ließ ein grimmiges Lächeln auf Lâles Gesicht erscheinen. „Tu das nie wieder“, fauchte sie kampfeslustig, „Engel oder nicht. Komm nie zwischen eine Mutter und ihr Kind, oder du wirst es bereuen.“
Die Begleiter des Wanderers sahen Lâle mit ausdruckslosen Mienen an, während er selbst die Hand an die Wange legte, wo die Frau ihn mit der geballten Faust erwischt hatte. Er blieb stumm, was Lâle als Zeichen dafür nahm, dass sie ihren Standpunkt eindeutig dargelegt hatte. Sie nickte kurz und blickte dann von den vier Engeln zu ihrer Tochter hinab, um sich zu vergewissern, dass mit ihr alles in Ordnung war.
Schawâ blickte sie aus großen Augen freudestrahlend an. „Hast du das gesehen, Ama?“
„Ja, Süße, aber tu das bitte nie wieder. Das war äußerst gefährlich. Schau mal, wenn du dort heruntergefallen wärst, dann hättest du dir sehr wehgetan, und Ama wäre sehr traurig gewesen.“
Schawâs Mundwinkel folgten augenblicklich der Schwerkraft, und entgegen ihrer eigentlichen Überzeugung bekundete sie ihrer Mutter gegenüber, derartige Experimente zukünftig zu unterlassen. Vorerst.
Die kleine Reisegruppe setzte ihren Weg, den sie über eine Woche zuvor angetreten hatte, wortlos fort. Hatten bisher wenigstens die gelegentlichen kindlichen Scherze und naiven Fragen Schawâs die Stimmung aufgehellt, so vermochte nun nicht einmal mehr sie, die fünf Erwachsenen dazu zu bewegen, zu lächeln oder sich wenigstens zu unterhalten. Ihr Weg zog sich monoton entlang der Handelsrouten zwischen den Ordensfesten. So waren sie tatsächlich fast nie allein auf der Straße. Bald jedoch merkte Lâle, dass sie sich inmitten all der Reisenden, die sie umgaben, trotzdem allein fühlte. Man beachtete sie weder, noch suchte einer der Reisenden, aus Langeweile und da man ohnedies in dieselbe Richtung ging, das Gespräch, um Neuigkeiten auszutauschen. Der Frau kam es vor, als existiere sie nicht im selben Raum oder zur selben Zeit wie die anderen um sie herum. Schawâ schien das nichts auszumachen. Sie kam gut mit sich selbst und den Dingen um sie herum zurecht. Lâle hätte zu gerne mit dem Wanderer oder einem seiner Begleiter darüber gesprochen, war aber zu stolz, um nach den Geschehnissen wenige Stunden zuvor den ersten Schritt zu tun.
Schawâ hatte weniger Berührungsängste mit den sonderbaren Erwachsenen in ihrer Begleitung. Sie rannte und tanzte, scheinbar ohne auch nur einen Funken von Müdigkeit zu verspüren, um den Wanderer und seine drei Begleiter herum, stellte Fragen, zeigte ihnen, was sie in ihrem langen Leben bereits alles gelernt hatte und vermittelte mit keiner Geste auch nur den Eindruck, dass sie sich seit nunmehr über einer Woche auf der Straße befanden. Lâle war stolz. Zum ersten Mal schien sie etwas richtig gemacht zu haben. Ihre Tochter würde es sicher weit bringen, wenn man ihr die Möglichkeit dazu gab. Umso besorgter war sie, weil sie eben diese Möglichkeit schwinden sah. Was immer auch der Wanderer und seine Begleiter vorhatten, es würde ihrer Tochter sicher nicht zum Vorteil gereichen. Doch so weit würde Lâle es nicht kommen lassen. Sie hatte den Engeln ihren Standpunkt klar dargelegt und war nicht bereit, auch nur einen
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