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Apocalyptica

Apocalyptica

Titel: Apocalyptica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Graute
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warteten.
    Nachdem Lâle zum Rest der Reisegruppe aufgeschlossen hatte, blickte sie den Wanderer an, als gehe sie davon aus, dass er genau wusste, was sie in diesem Augenblick empfand. Wie zur Bestätigung ihrer Annahme lächelte der Vater ihrer Tochter. „Damals sagte ich ,noch nicht‘, heute aber ist der Tag gekommen, Schwester von Engeln. Tritt ein.“
    Lâle nickte mechanisch und wandte sich dem in allen Farben spiegelnden Eingang in das Schneckenhaus zu. Schawâ hatte die Hände an den Mund gelegt, probierte zum wiederholten Male verschiedene Töne und Geräusche aus und wartete auf deren Wiederhall aus den Windungen des riesigen Gebildes. Immer, wenn ein Geräusch ihr besonders gefiel, gluckste und lachte sie voller kindlicher, unschuldiger Freude. Angst vor dem bizarren, verstörenden Bild, das sich ihr bot, schien ihr fremd zu sein.
    Der Abstieg in das Schneckenhaus, dessen Äußeres Lâle auf seine Weise nicht weniger prunkvoll erschien als eine angelitische Kirche, war leichter, als sie befürchtet hatte. Zwar wirkten Boden und Wände wie von Wasser blankpoliertes Glas, doch ging es nicht sonderlich steil abwärts, und nach einiger Zeit schien es sogar wieder nach oben zu gehen. Schawâ sah aus, als befände sie sich in einem Märchen. Ihre Augen leuchteten, wie es nur die eines Kindes vermochten, und sie konnte die Hände nicht von den spiegelnden Oberflächen lösen, die in Tausenden Farben schillerten. Lâle fühlte sich beim Anblick ihrer Tochter an ihre eigene Kindheit erinnert. Sie war dem Wanderer schon einmal auf einem solchen Weg gefolgt und hatte die Absonderlichkeit dieses Ortes damals ähnlich wahrgenommen, wie es jetzt ihre Tochter tat. Auch jetzt, Jahrzehnte nach ihrer ersten Begegnung mit dem Übernatürlichen und Unbegreiflichen, war es nicht minder fremdartig und verstörend. Der sanfte Wind, der ständig von vorn durch den langen Gang wehte, roch nach Meer und Weite. Die vier Wanderer schien dieser Ort nicht sonderlich zu beeindrucken. Gleichförmig schritten sie aus, als bewegten sie sich über die einsamen Straßen einer verlassenen Stadt.
    Der Wind wurde stärker und zerrte an Lâles Haaren, als es vor ihnen heller wurde. Wieder war es Schawâ, die als erstes die Stille durchbrach und voller Staunen herausplatzte: „Schau mal, Ama, da ist Licht, wir sind wieder draußen.“ Fasziniert lief das Mädchen dem Lichtschein entgegen. Lâle blieb der Mund offen stehen. In der hohen Öffnung des Ausgangs hielt sie inne und drehte sich um. Wann hatten sie gedreht und waren den Weg, den sie gekommen waren, wieder zurückgegangen? Hatten sie sich verlaufen und waren irgendwo falsch abgebogen? Der Wanderer und seine Gefährten hatten die riesige Muschel bereits verlassen und wandten sich der verdutzen Frau zu, die immer noch zu verstehen versuchte, was nicht zu verstehen war. Dies war nicht die Küste von Rodez. Sie waren nicht am selben Ort, den sie wenige Minuten zuvor verlassen hatten, und dennoch hatten sie sich nicht bewegt. Zumindest nicht so, dass die Frau es gespürt hatte. „Wo sind wir?“, fragte Lâle verwirrt, auch wenn sie nicht sicher war, ob sie die Antwort hören wollte.
    „Iberia“, kam die knappe Antwort des Mannes, der aussah wie ein jüngerer Bruder des Wanderers.
    „Kommt, wir müssen weiter“, fügte der an und stapfte durch den feinen Sand den Strand hoch in Richtung der dicht bewachsenen Felsen, die sich vor ihnen auftürmten.
    Als sie bereits ein kleines Stück Wegs zurückgelegt hatten, blieb Schawâ plötzlich wie vom Donner gerührt stehen, nachdem sie sich zu ihrer Mutter umgedreht hatte, die weiter zurückgeblieben war und ihren Gedanken nachhing. Zunächst bemerkte Lâle den Blick ihrer Tochter gar nicht, doch dann sah sie, dass das Mädchen an ihr vorbei aufs Meer starrte und drehte sich selbst um, um herauszufinden, was sie sah. Sie erschrak. Aus dem riesenhaften, aber auf seltsame Weise filigranen, domartigen Schneckenhaus ragten gigantische gepanzerte Beine, die versuchten, das gesamte Gebilde ins Wasser zu zerren. Im Inneren der Muschel hauste die Mutter aller Einsiedlerkrebse, und sie alle waren fröhlich in ihre Behausung gekrochen. Ein kalter Schauer überlief Lâle, als sie daran dachte, was hätte passieren können, wenn sie dem Monstrum begegnet wären. Handelte es sich gar um Traumsaat? Als sie den Blick angewidert abwandte, sah sie, dass der Wanderer in ihre Richtung blickte. „Keine Angst, Schwester von Engeln, nicht alles Wundersame und

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