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Apocalyptica

Apocalyptica

Titel: Apocalyptica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Graute
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dunkelhäutige weibliche Engel saß ihr gegenüber und machte den Eindruck, als habe er die ganze Zeit über den Blick nicht von den Schlafenden gewandt.
    „Du bist wach, das ist gut“, sagte die dunkelhäutige Frau emotionslos.
    Lâle, die immer noch mit einem Teil ihrer Sinne im Traumland weilte, erwiderte schlaftrunken: „Warum hasst du uns so?“
    Ihr Gegenüber schnaubte. „Ich hasse euch nicht. Es ist mir unmöglich zu hassen. Ihr seid mir nur schrecklich egal. Ohne euch wäre vieles einfacher gewesen“
    Die Schwester von Engeln wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Irgendetwas sagte ihr jedoch, dass der Engel nicht die Wahrheit sprach, und wenn die Frau lügen konnte, konnte sie auch hassen, dessen war Lâle sich sicher.
    Ohne weiter darauf einzugehen, erhob sich die schwarzhaarige Gefährtin des Wanderers. „Komm, wir müssen weiter.“
    Lâle erhob sich und nahm in der gleichen Bewegung Schawâ auf den Arm. Sie wollte der Kleinen noch etwas Ruhe gönnen, bevor die Strapazen der Reise sich fortsetzten. „Weißt du“, sagte sie an die dunkle Schönheit gewandt, „ich kenne noch nicht einmal deinen Namen, obwohl wir schon so lange miteinander reisen. Keinen Namen, nicht einmal den des Vaters meiner Tochter. Habt ihr denn dort, wo ihr herkommt, keine Namen?“
    Die Schwarzhaarige machte ein Gesicht, als müsse sie über das nachdenken, was Lâle sie gefragt hatte. Dann drehte sie sich um und verließ die Gastwirtschaft. Im Gehen sagte sie: „Keine Namen. Namen sind zu gefährlich.“
    Lâle folgte der Frau in einigem Abstand. Schawâ wog schwer in ihren Armen. Sie war wieder gewachsen, und ihrer Mutter war es kaum aufgefallen. Zu viel war in den vergangenen Wochen geschehen. Die Schwester von Engeln dachte daran, dass sie, wenn es so weiterging, die gesamte Kindheit ihrer Tochter verpassen würde. Obwohl sie nie getrennt waren, gab es immer wieder Dinge, die wichtiger waren als das, was ihr wirklich etwas bedeutete. Lâle beschloss, dass es nicht so weit kommen würde. Diesmal würde sie nicht für eine höhere Aufgabe die Menschen, die sie liebte, vernachlässigen.
    Die dunkelhäutige Schönheit schlug nicht den Weg ein, den Lâle erwartet hatte. Zunächst sah es zwar so aus, als gingen sie zu einer der Hafenmolen, doch dann bogen sie ab und folgten der Küstenlinie am Strand entlang in Richtung Norden. Kurz überlegte Lâle, ob sie fragen sollte, wohin es sie diesmal verschlug, merkte dann aber, dass sie des Fragens langsam überdrüssig wurde und ohnedies keine für sie zufriedenstellende Antwort erhalten würde. Als Schawâ ihrer Mutter langsam zu schwer wurde, machte Lâle kurz halt, um ihre Tochter zu wecken. Ihre Führerin jedoch machte keine Anstalten, ihren Marsch noch einmal zu unterbrechen, so dass die beiden Schlusslichter sich beeilen mussten, um nicht den Anschluss zu verlieren.
    Als sie außer Sichtweite der Stadt waren, konnte Lâle den Rest ihrer Gruppe ausmachen, der vor einem großen Felsen stand, der halb im Wasser lag. Als sie jedoch näherkamen und Lâle erkannte, um was es sich bei dem Felsen wirklich handelte, schlugen die Wellen der Erinnerung über ihr zusammen.
    Sie war wieder ein Kind, und der Schmerz um den Verlust ihrer Eltern und ihres Bruders saß wie ein Stachel in ihrem Fleisch. Die sturmumtoste Küstenlinie Trondheims lag vor ihr, und ihre nackten Füße wurden von eisigem Meerwasser umspült. Vor ihr ragte die Gestalt des Wanderers auf. Er sah aus wie eine lebendig gewordene Statue, und zu seinen Füßen bildeten sich steinerne Schneckenmuster und Muschelschalen aus dem Sand.
    „Kann ich nicht mit dir kommen?“, hörte Lâle sich selbst mit einer Stimme, die sie schon lange nicht mehr ihr Eigen nannte.
    Der Wanderer beugte sich vor und streichelte ihr mit seiner großen, aber samtweichen, warmen Hand die Wange. „Noch nicht.“
    Dann drehte er sich um und betrat das gigantische Muschelhaus, das sich kurze Zeit zuvor aus dem Meer erhoben hatte und nun darauf wartete, ihn aufzunehmen. Die Erinnerung verblasste.
    Das Bild des riesengroßen Muschelhauses blieb.
    „Boah, Ama, schau mal!“ Schawâ, die kurze Zeit zuvor erst die Augen geöffnet hatte, war nun vollends erwacht, als hätte man ihr einen Eimer kalten Wassers über den Kopf geleert. Aufgeregt löste sie den Griff um die Hand ihrer Mutter und stürmte los. So schnell sie ihre kurzen Beine in dem grobkörnigen Sand trugen, eilte sie den drei Gestalten entgegen, die bewegungslos am Strand auf sie

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