Apocalyptica
obersten Engels der Kirche, ragte an ihrer Seite auf. Die losen Enden der zahllosen Votivbänder, die um den langen Schaft der Lanze geschlungen waren und von vergangenen Siegen und Großtaten kündeten, schienen ihren Körper und ihr Gesicht immer wieder zu geißeln, als wollten sie den Engel für einen Fehltritt strafen. Doch dem Mädchen machte es nichts aus. Auriels Blick war auf die wimmelnde Masse vor, über und unter ihr gerichtet. Sie widerstand dem Impuls, die Leiber der Traumsaatdämonen zu zählen – es mussten Millionen sein, und sie waren lediglich ein paar tausend. Der Feind war ihnen eins zu hunderttausend überlegen. Doch der Engel spürte keine Angst in sich. Nur Befremden. Noch nie in ihrem ganzen irdischen Dasein hatte Auriel so viel Traumsaat auf einen Haufen gesehen. Es war kein Wunder, dass seit Wochen keine Angriffe aus anderen Teilen der Welt gemeldet wurden. Sie waren alle hier, in Cordova. Aber weshalb? Ausgerechnet dieser kleine Stützpunkt der Urbanis-Liga diente ihnen als Versammlungsort für die finale, alles besiegelnde Schlacht? Es musste mehr dahinterstecken.
Die Michaelitin hatte in den vergangenen Tagen kaum Gelegenheit gehabt, sich ausruhen. Fast den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch hatte sie mit den Heerführern der Orden und den Anführern der Scharen über Kartenmaterial und Schlachtplänen gebrütet, ohne zu einem zufriedenstellenden Ergebnis zu gelangen. Es fehlte an allen Ecken und Enden. Ihr größtes Problem war, wie nicht anders zu erwarten, das Ausbleiben ihres starken Arms. Insgeheim hatte sie bis zum Morgen mit dem Auftauchen der Gabrieliten in letzter Sekunde gerechnet. Im Laufe der Morgenstunden jedoch hatte sie diese Hoffnung als Träumerei abgetan. Im Angesicht der letzten Schlacht war Wunschdenken fehl am Platz. Die Fakten sprachen für sich. Zwar ergänzten die Samaeliten die Scharen an Stelle ihrer Geschwister aus Nürnberg, waren ihnen jedoch zahlenmäßig nicht gewachsen, und ihnen fehlten trotz ihres hohen Alters die Erfahrung und die nötige Portion Wildheit, die Auriel bis zu diesem Tag an ihren gabrielitischen Geschwistern stets verabscheut hatte. Der erste Engel neigte nicht zur Mutlosigkeit. Auriel war den Schrecken der Welt stets positiv und voller Hoffnung begegnet, und selbst in aussichtslosen Situationen hatte sie den Gegebenheiten noch etwas Gutes abgewinnen können, doch diese Schlacht stand nicht zum Guten für die Angelitische Kirche. Die Menschheit war dem Untergang geweiht, wenn nicht ein Wunder geschah.
Der Kommandostab der Angelitischen Kirche hatte sich über die Plattformen der Sarieliten verteilt, was die direkte Kommunikation erschwerte. Doch Auriel wollte kein Risiko eingehen. Fokussierte sich der Angriff der Traumsaat auf eines dieser exponierten Ziele, so war es um die Führungsspitze des Heeres der Kirche geschehen. Die Michaelitin vertraute daher lieber auf ihre Mächte, um die Schlacht zu koordinieren. Einer der Gründe, warum man ihr in so jungen Jahren die Michaelis-Lanze überantwortet hatte, war ihr erstaunliches Talent im Umgang mit den Mächten ihres Ordens. Sie war in der Lage, im Geiste mit jedem Engel auf dem gewaltigen Schlachtfeld in Kontakt zu treten. Ihre Ordensgeschwister verfügten anfänglich nur über die Fähigkeit, auf kurze Distanz mit wenigen ihrer Schar zu kommunizieren. Zu beschwerlich und ermüdend war das Prozedere. Auriel hingegen hatte schon früh über das Talent verfügt, ihren Geist in die Ferne auszustrecken wie die Finger einer riesigen Hand oder die Äste eines weitverzweigten Baumes. Als sie zwei Jahre zuvor die Weihe zum obersten Engel erhalten hatte, war das Glücksgefühl in ihr kaum zu beschreiben gewesen. Nun war der Tag gekommen, um sich zu beweisen, dass ihr die Ehre zu Recht zuteil geworden war.
Alle bereit machen. Der stumme Befehl pflanzte sich binnen Bruchteilen eines Augenblicks in die Köpfe der anderen Michaeliten, die mit ihren Scharen überall im weiten Halbkreis auf den Befehl zum Angriff warteten. Wie als Zeichen göttlicher Zustimmung brach die Wolkendecke über der Szenerie plötzlich auf, und helles freundliches Sonnenlicht überflutete den Himmel. Die wärmenden Strahlen der Sonne erfassten alles und jeden, und für einen kurzen Augenblick hatte es den Anschein, als wolle die Traumsaat vor diesem übermächtigen Feind zurückweichen. Doch dann erstarb das helle Leuchten so schnell, wie es gekommen war, und stahlgraue Finsternis verbannte das goldene Licht hinter die
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