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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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George W. seine Offensive »Iraqi Freedom« auslösten. Für Saddam Hussein gab es von dem Moment an keine Überlebenschance, in dem er in den Verdacht nuklearer Aufrüstung geriet. Der Libyer wußte, was ihm blühte, und er kroch zu Kreuze. Den Amerikanern wurde jede Freizügigkeit gewährt, die verdächtigen Produktionsstätten zu durchsuchen und ihre Sprengung oder Auslagerungzu beaufsichtigen. Um zusätzliche Absolution warb der Diktator von Tripolis, indem er sich auf dem Gebiet der Erdölförderung und -belieferung außerordentlich entgegenkommend zeigte. Kurzum, aus einem »bad guy« wurde im Handumdrehen ein »good guy«.
    Die Nachgiebigkeit, ja der plötzliche Schmusekurs des Westens gegenüber einem notorischen Verbrecher, einem Tyrannen, der in Wirklichkeit eine internationale Aburteilung verdient hätte, gehört zu den schändlichsten Kapiteln einer heuchlerischen »Menschenrechtsdiplomatie«. Washington hatte diesen neuen Kurs vorge­zeich­net. Libyen wurde von der Liste der den Terrorismus begünstigenden Staaten gestrichen. Die Beziehungen zwischen Washington und Tripolis wurden normalisiert, noch bevor die bulgarischen Krankenschwestern, die aufgrund der unsinnigen Anklage, sie hätten libysche Kinder mit dem HIV-Virus infiziert, aus ihren Kerkern befreit wurden. Die Ölkonzerne aus den USA nahmen ihre Prospektionsarbeit in den Wüstenregionen wieder auf. Die engste Vertraute des Präsidenten George W. Bush, Außenministerin Condoleezza Rice, entblödete sich nicht zu verkünden: »Libyen ist ein wichtiges Vorbild in einer Welt, die von den Regierungen Irans und Nordkoreas eine gründliche Umkehr erwartet. Wir verlangen dringend von den führenden Politikern in Iran und Nordkorea, daß sie strategische Entscheidungen treffen, die dem Einlenken Libyens entsprechen und zudem heilsam für ihre eigenen Völker wären.«
    Die Europäer haben sich ebenfalls unter das »caudinische Joch« dieses Erpressers gebeugt, der mit seinem »Grünen Buch« – in Anlehnung an das »rote Buch« Mao Zedongs – eine neue Weltordnung, einen konfusen Sozialismus predigte. Immerhin förderte er das Wohlergehen seiner Untertanen. Er verlangte den Vorrang der Bildung für die Jugend und plädierte für die Gleichberechtigung der Frauen. Das Lebensniveau des Durchschnittseinwohners der Jamahiriya lag weit über dem aller übrigen Länder des schwarzen Kontinents. Die dem System innewohnende Korruption steigerte sich dennoch ins Unermeßliche.
    Wieder einmal war es der britische Premierminister Tony Blair, derden Reigen anführte, indem er Qadhafi als »soliden Partner des Westens« lobte. Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder, wie so manch andere Regierungschefs, reiste im Oktober 2004 ebenfalls nach Tripolis und gewann dort Einblick in Geschäfte, die ihm wahrscheinlich bei seiner späteren Tätigkeit für den russischen Staatskonzern Gazprom nützlich waren. Nicolas Sarkozy bereitete Qadhafi in Paris einen aufwendigen Staatsempfang. Unter dem Schutz seiner weiblichen Leibgarde in Tarnuniform ließ der Beduinensohn sein riesiges Wohnzelt im Garten des Palais Marigny aufrichten. Sarkozy mußte sehr bald feststellen, daß seine Huldigung an den libyschen Tyrannen ebenso unmoralisch wie ergebnislos war. Nachdem der Revolutionsführer seinen gallischen Gastgeber zudem mit ätzenden Beleidigungen traktiert hatte, war man in Paris fest entschlossen, ihm diese Impertinenz bei der ersten sich bietenden Gelegenheit heimzuzahlen.
    Piraten und Derwische
    Im Sommer 1958 hatte ich zum ersten Mal Libyen bereist. Mit dem Autobus war ich entlang der tunesischen Südküste gefahren. Als wir die Grenze überquerten, hatte mich ein »Alim« der Zeituna-Universität, der neben mir saß, auf ein paar Betonbunker aufmerksam gemacht, Reste jener Mareth-Linie, mit der die Franzosen im Winter 1939 ihre nordafrikanischen Besitzungen gegen die Divisionen Mussolinis abschirmen wollten. Am Rande der tripolitanischen Asphaltbahn entdeckte ich die verlassenen Siedlungen der italie­nischen Kolonisten, die das faschistische Regime in die Wüste geschickt hatte, um an die grandiose Agrar-Tradition des antiken Rom anzuknüpfen. Die Felder, die dort unter unsäglichen Mühen der Wüste abgerungen worden waren, versanken längst wieder im Sand. Die schmucken

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