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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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weißen Häuschen waren verlassen, die Türen zerbrochen. Schwarze Ziegen suchten nach spärlichen Grasbüscheln.
    ImJuli 1958 war Tripolis noch eine europäisch geprägte Stadt. Das urbanistische Talent der Italiener hatte anspruchsvolle Verwaltungsbauten und vor allem eine herrliche Hafenpromenade hinterlassen. Unter den hochgewölbten Arkaden des Geschäftsviertels ging es fast neapolitanisch zu. Der greise König Idris el-Senussi war ein gefügiges Werkzeug des Westens. Die Briten bildeten seine ­Armee aus und verfügten über Basen in der ­Cyrenaika, während die Amerikaner vor den Toren der Hauptstadt den gewaltigen Luftstützpunkt Wheelus Field ausgebaut hatten. Die Franzosen übten im südöstlichen Wüstengebiet die Verwaltung der Provinz Fezzan mit der Hauptstadt Sebha aus. Kein Wunder, daß sich unter den jungen libyschen Offizieren, in der aufsässigen Kaufmannschaft, auch bei den Beduinen der Wille nach tatsäch­licher Unabhängigkeit regte und der Wunsch, am großen Aufbruch des Arabismus teilzuhaben.
    Im Hotel »Mehari«, dessen Fenster sich auf die tiefblaue Bucht öffneten, erreichte mich die große Nachricht des Tages. Der irakische König Feisal war in der Nacht ermordet worden. Mit der Machtergreifung radikaler arabischer Nationalisten in Bagdad war das gesamte amerikanische Bündnissystem im Nahen und Mittleren Osten ins Wanken geraten. Der alte Gewährsmann der Briten im Zweistromland, Premierminister Nuri Said, wurde bei seinem Fluchtversuch, den er in Frauengewändern unternahm, erkannt und ermordet. Seine verstümmelte Leiche wurde durch die Straßen geschleift. Die Sympathisanten des ägyptischen »Rais« Gamal Abdel Nasser triumphierten an Euphrat und Tigris. Dem haschemitischen Königreich Jordanien, dessen Herrscher Hussein zu seinem Vetter Feisal in Bagdad engste Beziehungen pflegte, drohte ein ähnliches Debakel. Britische Fallschirmjäger wurden unter Benutzung des israelischen Luftraums nach Amman eingeflogen und sorgten dort für Stabilität.
    Im Libanon, wo Teile der muslimischen Bevölkerung ebenfalls in den Taumel der nasseristischen Begeisterung geraten waren, rief der christliche Präsident Camille Chamoun die Amerikaner ins Land, weil in Beirut und im Gebirge offener Bürgerkrieg drohte. AmTage meiner Ankunft in Tripolis waren die US-Marines, die »Ledernacken«, an der libanesischen Küste angetreten, und der ganze Maschreq, der ganze arabische Orient, vibrierte vor Empörung und Wut. In der libyschen Hauptstadt hatten die Korangelehrten und die panarabischen Nationalisten den Generalstreik ausgerufen. Ich ließ mich zur Altstadt fahren, die jenseits der malerischen türkischen Zitadelle begann. Sämtliche Läden waren geschlossen. Kaum ein Mensch war zu sehen. Während ich einsam durch die verwaisten Gassen schlenderte, dröhnte fast aus jedem Haus eine wohlbekannte Stimme. Gamal Abdel Nasser hatte die Menschenmassen des Niltals zusammengerufen. Der ägyptische Rais stand damals auf dem Höhepunkt seines Ansehens.
    Nun donnerte er gegen die amerikanische und britische Intervention im Libanon und in Jordanien. Sein mächtiger Aufruf zum nationalen Widerstand hallte nicht nur durch Ägypten, sondern durch die ganze arabische Welt von Marokko bis zum Persischen Golf. »Saut el Arab«, Stimme der Araber, nannte sich der überall hörbare Rundfunksender von Kairo. Die Libyer hatten ihre Radiogeräte auf maximale Lautstärke gestellt und vernahmen gebannt die Worte des großen Volkshelden vom Nil.
    Ich mußte an die Szene im Film »Der große Diktator« denken, wo Charly Chaplin durch die verödeten Straßen einer Provinzstadt hetzt, verfolgt von der Stimme des entfesselten und tobenden Tyrannen. Eine ähnliche Psychose herrschte in den vereinsamten Gassen von Tripolis. Ganz unbedenklich wäre es nicht gewesen, in dieser Stunde anti-imperialistischer Aufwallung als westlicher Ausländer erkannt zu werden. Als ich auf einem stillen Platz im Schatten einer kleinen Moschee schließlich eine Gruppe Männer entdeckte, die, um das Radio geschart, der Botschaft aus Kairo lauschten und dabei ihren Kaffee schlürften, ging ich schnurstracks auf sie zu und setzte mich zu ihnen. Auf die Frage, woher ich käme, gab ich an, ich sei Druse, ein »Darsi« aus dem Libanon. Das reichte aus, um mich akzeptabel zu machen,

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