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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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ominöse Spionagechef Mussa Kussa war schon in der ersten Stunde des Aufruhrs aus Tripolis geflüchtet und nach London, dann nach Qatar ausgewichen.
    Es erwies sich sehr bald, daß die Aufständischen weder über die geeignete Ausbildung noch über die Waffen verfügten, um den gut trainierten Soldaten Qadhafis und seinem schweren Kriegsmaterial standzuhalten. In aller Eile trat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zusammen, um das Massaker von Zivilisten durch die Loyalisten Qadhafis zu verhindern. Zur Ausschaltung der libyschen Luftwaffe wurde ein Ȇberflugverbot« verhängt. Dabei kam es zu einer diplomatischen Fehlleistung der deutschen Regierung, die von so unterschiedlichen Politikern wie Helmut Kohl und Joschka Fischer als die verhängnisvollste diplomatische Entscheidung der Bundesrepublik seit ihrer Gründung bezeichnet wurde. Während sämtliche Mitglieder der NATO und der Europäischen Union für die UN-Resolution stimmten, wurde dem sichtlich irritierten deutschen Botschafter bei den Vereinten Nationen die Weisung erteilt, sich der Stimme zu enthalten und sich mit Rußland und China in ein gemeinsames Lager der Zurückhaltung einzureihen. Besagte ­Resolution verlangte keinerlei aktive Beteiligung an dem »Schutz der Zivilbevölkerung«, und Berlin hätte keinen einzigen Soldaten, keineinziges Flugzeug für diese Aktion aufbieten müssen, ja wäre nicht einmal eine humanitäre Verpflichtung eingegangen. Für Deutschland war dieser 17. März 2011 ein Tag der Scham und einer völlig sinnlosen Brüskierung seiner beiden engsten Alliierten, der Vereinigten Staaten von Amerika und der französischen Republik. Mit einem Schlag war die Bundesrepublik als Bündnispartner diskreditiert, in den Verdacht mangelnder Zuverlässigkeit gerückt worden. Die deutsche Enthaltung wirkte geradezu grotesk, als die Mehrheit der Mitglieder der Arabischen Liga sich mit dem UN-Entschluß solidarisierte.
    Zwischen London und Paris hatte – in dem Maße, wie die militärische Zusammenarbeit zwischen Paris und Berlin von deutscher Seite ihres ursprünglichen Elans beraubt worden war – eine strategische Annäherung stattgefunden. Von einer Wiedergeburt der »Entente Cordiale« konnte nicht die Rede sein, aber die Generalstäbe der beiden Bündnispartner des Ersten Weltkriegs versuchten ihre jeweiligen Kampfmittel zu koordinieren und gegenseitig zu ergänzen. Beide Regierungen waren sich voll bewußt, daß ihr kriegerischer Einsatz in Nordafrika auf die logistische Unterstützung, die Koordinationsstränge, auf den Nachschub und auf gewisse Spezialwaffen der Amerikaner angewiesen blieb.
    Die westlichen Nachrichtendienste waren schon lange in Libyen am Werk, aber die Kampfkraft Qadhafis und seine Entschlossenheit hatten sie wohl unterschätzt. Auf sich selbst gestellt, hätten die »Thuwar« von Misrata und Bengasi keine Chance gehabt. Die Panzerkolonnen des »brüderlichen Führers« waren dem konfusen Haufen der Rebellen, die sich in der Anfangsphase vor allem als Schreihälse, als Chaoten gebärdeten und die wenige Munition, die sie besaßen, zur Demonstration ihrer Kampfentschlossenheit verfeuerten, weit überlegen. Die Armee Qadhafis stand im Begriff, in die sechshunderttausend Einwohner zählende Hochburg des Aufstandes, in Bengasi, einzurücken. Ein schreckliches Gemetzel war zu erwarten.
    Da schlug die Stunde des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy. Während seines Wehrdienstes war er als einfacher Soldat in einerSchreibstube tätig, aber jetzt beugte er sich mit seinen Mi­litärberatern unablässig über die Landkarten. Die NATO tagte in Paris und diskutierte noch über ihren Einsatz, da erhielten die französischen »Mirages« den Befehl, die Qadhafi-treuen Brigaden aus der Luft zu vernichten. Die Aktion war ein voller Erfolg. Ein paar hundert gepanzerte Fahrzeuge und Tanks verglühten im Bombenhagel. Bengasi war gerettet, aber der ursprüngliche UNO-Auftrag, die wehrlose Zivilbevölkerung vor der Soldateska Qadhafis zu schützen, weitete sich automatisch aus. Es ging nun um die Beseitigung des Tyrannen, der sein Land seit zweiundvierzig Jahren zum Objekt seiner Willkür gemacht hatte. Anfangs hatten sich sogar Norweger und Dänen an dieser Erprobung der Atlantischen Allianz mit ein paar Flugzeugen beteiligt. Italien stellte seine

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